Ausgabe: spw 243

Wohlfahrtsstaatliche Pfade und soziale Ungleichheit in Europa

Einleitung zum Heftschwerpunkt

Aktivierender Sozialstaat, marktbasierte Eigenverantwortung und später auch Austerität waren die zentralen Paradigmen, die seit Ende der 1990er Jahre die Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken innerhalb der EU prägten. Hiernach galt Gleichheit nicht mehr als Angleichung von Lebensverhältnissen, sondern als Gewährleistung von Chancengleichheit: „Soziale Sicherung für alle Erwerbsfähigen sollte primär über die aktive Teilhabe am Arbeitsmarkt erfolgen.“ Mit dem Diskurs der Eigenverantwortung wurden Teile der sozialen Sicherung, u.a. der Alterssicherung, in private Vorsorgesysteme umgewandelt. Anstelle von sozialen Transfers sollte in Bildung und soziale Dienstleistungen investiert werden. Durch Investitionen auch in frühkindliche Bildung sollte die Erwerbstätigkeit von Frauen steigen. Trotz wirtschaftlichem Wachstum wuchs zugleich die soziale Ungleichheit, u.a. auch in Deutschland. Zudem führte die Austeritätspolitik zu Einsparungen in der sozialen Infrastruktur. Diese insgesamt marktliberale Dynamik verlief jedoch nicht einheitlich, sondern abhängig von wohlfahrtsstaatlichen Pfaden und deren jeweiligen Logiken.

Artikel

Inhalt Heft 243

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Einleitung zum Heftschwerpunkt: Wohlfahrtsstaatliche Pfade und soziale Ungleichheit in Europa

von Björn Hacker, Max Reinhardt, Stefan Stache

Kurzum spw 243

von Uwe Kremer

Zur Entscheidung zum Mietendeckel, zur Kampagne "Deutsche Wohnen & Co. Enteignen" und der linken Perspektive

von Franziska Drohsel

Die Veröffentlichung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts am 15.05.2021, in der der Mietendeckel (Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin – MietenWoG Bln) rückwirkend für nichtig erklärt wurde, hat viele in Berlin konsterniert zurückgelassen. An dem Beschluss ist viel zu kritisieren. 2006 ist der Kompetenztitel „Wohnungswesen“, zu dem viele Jahre auch eine öffentlich-rechtliche Mietpreisbegrenzung zählte, an die Länder gegangen. Aus dem Umstand, dass der Bund sich auf das bürgerliche Recht zur Gestaltung der Mietverhältnisse und damit der Mietpreise gestützt habe, sei die Kompetenz des Wohnungswesens um eben diese Mietpreisbegrenzung „verkürzt“.  Wie sich ein Kompetenztitel durch die „Staatspraxis“ verändert und hierfür nicht mehr eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich ist, bleibt das Geheimnis des Zweiten Senats. mehr

Kalter Krieg oder Entspannungspolitik?

von Dietmar Köster

Wir leben in einer unsicheren Welt und in gefährlichen Zeiten. Dies liegt nicht allein an der Pandemie und der Klimakrise. Spannungen in der Welt eskalieren. Die Anwendung von Gewalt hat in den zurückliegenden zehn Jahren weltweit zugenommen, während sie im Zeitraum davor zurückgegangen war. Der Weltfriedensindex (GPI; Institute for Economics & Peace 2020) zeigt für das vergangene Jahrzehnt einen Trend zu mehr globaler Gewalt und weniger Frieden. Noam Chomsky (2021) kommt jüngst zu der Einschätzung, dass die Gefahr eines Atomkriegs aktuell so groß ist wie zu Zeiten des Kalten Krieges.  mehr

Interview: Neuausrichtung wohlfahrtsstaatlicher Arrangements

von Sigrid Leitner

spw: In welche Typen lassen sich unterschiedliche Pfade nationaler Wohlfahrtsstaaten gliedern, um deren Logiken und Traditionslinien verstehen und vergleichen zu können? 

Sigrid Leitner: Vor gut 30 Jahren hat der dänische Sozialforscher Gøsta Esping-Andersen die mittlerweile berühmte Unterscheidung von drei „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ erstmals veröffentlicht. Er beschreibt drei Idealtypen von Wohlfahrtsregimen, denen er jeweils reale Prototypen zugrunde legt: Schweden und Dänemark stehen als Beispiele für das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime, das ein hohes Maß an Umverteilung von Einkommen, starke soziale Rechte und einen ausgebauten öffentlichen Dienstleistungssektor umfasst. Dem sozialdemokratischen steht der liberale Wohlfahrtsstaat, beispielhaft die USA und Großbritannien, diametral gegenüber: Ein geringes Maß an Umverteilung, eingeschränkte, vorwiegend bedürfnisgeprüfte soziale Rechte und die Dominanz des Marktes für die soziale Absicherung und im Bereich sozialer Dienstleistungen sind seine Charakteristika. mehr

Neuformation von Wohlfahrtsstaaten und soziale Ungleichheiten in der EU

von Max Reinhardt

Schon vor Corona wurde die Zunahme sozialer Ungleichheiten immer wieder als zentrales gesellschaftliches Problem thematisiert. Spätestens seit der Finanzkrise hat nicht nur die Analyse sozialer Ungleichheiten an Popularität gewonnen, sondern auch die Klassengesellschaft ist, wie Rehberg (2011) ironisch formulierte, „wiedergekehrt“ – und zwar vor allem auf die mediale Bühne, mittlerweile sogar angereichert durch zahlreiche autobiografische Publikationen, darunter die vermutlich bekannteste von Eribon (2017). Es bedurfte erst der Finanzkrise, um aus Angst vor Aufständen beide Themen, soziale Ungleichheiten und Klassenanalysen oder Klassismus, wieder aus der Nische linker Medien und Wissenschaften in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen (siehe Kadritzke 2009). Die Aufmerksamkeit für die Klassengesellschaft erhöhte sich mit der Corona-Krise weiter, sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft. Vor allem, was noch viel wichtiger ist, spitzt sich die Klassengesellschaft in der sozialen Praxis weiter zu (siehe auch das Interview mit Sigrid Leitner in dieser spw-Ausgabe).

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Covid-19 und die EU – ein neuerlicher Schock für die europäischen Wohlfahrtsstaaten?

von Arne Heise

Trotz aller Beteuerungen, dass die europäische Integration keineswegs ausschließlich ökonomischen Imperativen folgt, bilden die Hoffnungen, die sich mit der realwirtschaftlichen, aber auch der monetären Integration Europas verbinden, zweifellos die Grundlagen des immer stärkeren Zusammenwachsens der Mitgliedstaaten.  Insbesondere die Zustimmung zu dem politischen Projekt ‚Europäische Union‘ in den ost- und südeuropäischen Staaten hängt in hohem Maße von der Sicht- und Fühlbarkeit (scheinbarer) ökonomischer Vorteile für die Bürger ab. mehr

Interview: Schweden hat einen sehr heftigen Prozess neoliberaler Experimente durchgemacht

von Jenny Andersson

spw: In Mitte-links-Debatten in Deutschland gilt der schwedische Wohlfahrtsstaat nach wie vor häufig als Vorbild. Nicht zuletzt trifft man häufig auf Vorstellungen von ausgleichenden Schulen, von starken generellen Wohlfahrtssystemen und von starken sozialen Aspekten in Wohnungspolitik sowie Arbeits- und Sozialversicherungssystemen, die die niedrigsten Löhne sowie Einkommensklassen in der Gesellschaft auf einem hohen Level halten. Inwieweit trifft dieses Bild zu – sowohl im internationalen Vergleich dessen, wie sich die Wohlfahrtsstaatsinstitutionen entwickelt haben, als auch bezüglich ihrer Auswirkungen auf die soziale Gleichheit? 

Jenny Andersson: Meiner Meinung nach gibt es außer einigen gut informierten Korrespondent*innen aus Stockholm in Europa im Grunde genommen keine Journalist*innen, die die schwedische Entwicklung verfolgen. Somit sind die in den Medien gezeichneten Bilder 50 Jahre hinter der Zeit zurück, ausgenommen nur gelegentliche kenntnisreiche Analysen. Man kann auch sagen, dass der schwedische Wohlfahrtsstaat heute an sich ein Symbol darstellt, im In- wie im Ausland. Dieses Symbol hat eine Funktion, bei der es überhaupt nicht um empirische Wahrheit geht, sondern um eine Art Antithese oder ein romantisches Ideal für die heutige Zeit. mehr

Verteilungsschieflagen im deutschen Sozialstaat - Alternativkonzepte zur wachsenden Ungleichheit

von Christoph Butterwegge

Eine allgemein verbindliche Konvention, was unter einem „Sozialstaat“ zu verstehen ist, gibt es genausowenig wie eine schlüssige Definition des Begriffs „soziale Ungleichheit“, die – ökonomisch bedingt und struktureller Art – von der natürlichen, biologisch geprägten Ungleichheit zwischen Menschen bzw. Menschengruppen unterschieden werden muss. Hier bezeichnet der zuerst genannte Terminus eine Entwicklungsstufe moderner Industriegesellschaften, auf welcher der Staatsapparat neben seiner „klassischen“ Ordnungs- und Repressionsfunktion eine wirtschaftspolitische Interventionsfunktion übernimmt und nicht mehr nur (extreme) Armut bekämpft, sondern auch die allgemeinen Lebensrisiken seiner Bürger/innen (Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Unterversorgung im Alter usw.) absichert und für einen gewissen sozialen Ausgleich zwischen den unterschiedlich situierten Bevölkerungsschichten sorgt. mehr

Die soziale Ungleichheit steckt im Hartz-IV-Paternalismus

von Inge Hannemann

Wir befinden uns derzeit in einer heftigen Corona-Krise. Ausbaden müssen dies u.a. sozial benachteiligte Gruppen wie Hartz-IV-Leistungsberechtigte oder von Armut Betroffene. Diese wurden bislang nur ganz am Rande berücksichtigt. Zwar gab es im Herbst 2020 für Eltern 300 Euro pro Kind und im Mai soll es einmalig 150 Euro für Hartz-IV-Berechtigte geben, die nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Während Grundsicherungsleistungsberechtigte sich mit Almosen zufriedengeben mussten, hat der Staat dazu beigetragen, dass sich die Ungleichheit in der Corona-Pandemie verschärft. Durch den Bund wurden hohe Kredite, Finanzhilfen und Bürgschaften für Konzerne wie Lufthansa, Galeria Karstadt Kaufhof oder dem Reiseanbieter TUI zügig zur Verfügung gestellt. mehr

Von der Arbeitslosenversicherung zur Arbeits- und Bildungsversicherung

von Björn Böhning, Sven Rahner

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Weiterbildungspolitik wird zum großen arbeits- und sozialpolitischen Thema nach Überwindung der Corona-Pandemie. Die weiterbildungspolitischen Programme von SPD und Grünen liegen auf dem Tisch. Die Forderungen sind klar und konkret. Parteiübergreifende Positionen bilden sich heraus. Das sozialdemokratische Ziel, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln, wird von den Grünen mittlerweile offensichtlich unterstützt. Während die SPD ein Modell staatlich geförderter Bildungszeiten und Bildungsteilzeiten zur konsequenten Fortführung der in dieser Legislaturperiode begonnenen weiterbildungspolitischen Reformpolitik vorschlägt, fordern die Grünen ein entsprechendes Weiterbildungsgeld für Beschäftigte. mehr

Die aktuelle Zahl: 70 Prozent höher kann das Risiko sein, an Corona zu sterben, wenn man arm ist

von Michael Reschke

Die SPD vor einem neuen Keynesianismus?

von Michael Wendl

Die schnellen Entscheidungen von nationalen Regierungen und der Europäischen Union für große Konjunkturprogramme zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen einen weitreichenden Kurswechsel in wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik. Die Einschränkungen staatlicher Ausgaben durch Schuldenbremsen und Fiskalpakt wurden aufgehoben, zunächst nur befristet, aber es ist offen, ob sie wieder unverändert in Kraft gesetzt werden. Hinter diesen wirtschaftspolitischen Entscheidungen verbirgt sich der Wechsel eines theoretischen Leitbilds oder Paradigmas. Die neoliberale Leitidee, dass Märkte das beste Instrument sind, um die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern, wurde aufgegeben. An die Stelle der Märkte tritt der Staat, dessen politische Handlungen und finanzielle Ausgaben die wirtschaftliche Entwicklung fördern und steuern sollen.  mehr

Rezension: In der Warteschlange – Arbeiter*innen und die radikale Rechte

von Thilo Scholle

Sammelrezension: Demokratisches Engagement, Gegen-Hegemonie und utopisches Denken

von Thilo Scholle

DL21 Aktuell

von Hilde Mattheis

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