Ausgabe: spw 179

Gesundheitsgerecht - Soziale Gesundheitspolitik und -wirtschaft

Einleitung zum Heftschwerpunkt

Der verteilungspolitische Konflikt, der neben der Verteilung zwischen Arbeit und Kapital, die Umverteilung unter den Beschäftigten auch die Solidarität mit chronisch kranken und behinderten Menschen betrifft, ist nicht unmodern. Er ist auch heute wieder zu führen. Hinter der Verteilungspolitik sind immer wieder Fragen des Nutzens und Gebrauchswerts von Gesundheitsleistungen in den Hintergrund getreten. Gesundheit und Gesundheitsleistungen sind Voraussetzung anderer Lebensbereiche. Sie sichern die Arbeitskraft und ihre Reproduktion. Schon insoweit ist ein soziales Gesundheitswesen nicht nur Konsumtion anderswo erwirtschafteten Produkts, sondern zugleich Voraussetzung ökonomischer Reproduktion. Gesundheit ist auch deshalb keine nur individuelle Frage, sondern steht am Schnittpunkt von Mensch und Gesellschaft. Die Art, wie wir arbeiten und leben, bestimmt darüber, was wir für krank und gesund halten und wer wie krank und gesund wird. Diese Dimension von „Public Health“ in Erinnerung zu bringen, ist eine Aufgabe fortschrittlicher Gesundheitspolitik. In den letzten Jahren ist ein neuer Punkt hinzugetreten: Zunehmend wird die Produktion von auf Gesundheit bezogenen Dienstleistungen und Waren nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der Kosten und Gebrauchswerte, sondern auch als ökonomische Größe gesehen. Dabei geht es zum einen um jenes gute Zehntel der Beschäftigten in Deutschland, die daran arbeiten – sei es in Krankenhäusern und Arztpraxen, sei es in Pflege und Rehabilitation, sei es in pharmazeutischen Unternehmen oder im Gesundheitshandwerk. Zum zweiten geht es um den Profit, der von und mit ihnen erwirtschaftet werden kann. „Gesundheitswirtschaft“ ist zum Reizwort geworden.

Artikel

Inhalt Heft 179

Kurzum

von Thomas Westphal

Stellen wir uns einmal für einen Moment folgende Situation vor: In Deutschland tobe
eine Diskussion um die nächste Erhöhung der Krankenkassenbeiträge. Ärzteverbände, Krankenkassen, Pharmaindustrie, Krankenhausbetreiber,
Journalisten und Gesundheitspolitiker stritten sich wie die Kesselflicker,
um die Notwendigkeit der Erhöhung, um die Auswirkungen auf die soziale Lage im Land und überhaupt, um das gesamte marode Gesundheitssystem.
Und in diesem Stammtisch in Permanenz wäre nicht eine einzige hörbare
Stimme aus der SPD wahrzunehmen. Diese Situation ist unvorstellbar? Stimmt! Zumindest so lange Karl Lauterbach keine Ferien in Aserbaidschan ohne Zugang zum Mobilnetz macht. mehr

Lehrstück Hamburg: Mobilisierung der Privilegierten oder Mobilisierung der Mitte?

von Michael Vester

Am 18. Juli 2010 hat ein Volksentscheid in Hamburg den neuen Schulreformen einen Dämpfer verpasst. Mit 56% wurde die von allen Parlamentsparteien beschlossene
sechsjährige Primarschule abgelehnt. Dies war jedoch kein Erfolg der Gegenreform.
Es war eine erfolgreiche Mobilisierung bestimmter sozialer Schichten. Die 56%
repräsentierten, bei 38% Wahlbeteiligung, nur 21,5% der Wahlberechtigten.
Das waren meist Einwohner der „besseren“ Stadtteile, nicht nur Werbeleute, Architekten und Bankiers, sondern eine breitere Allianz des alten konservativen Bürgertums mit neuen Bildungsaufsteigern kleinbürgerlicher Herkunft. Mobilisiert worden waren sie durch die Furcht, dass den durch Sparpolitiken schon bedrängten Gymnasien nun noch weitere
zwei Jahre weggenommen würden.   mehr

Freiwillig läuft nicht

von Gabriele Hiller-Ohm

Die Ungerechtigkeit ist skandalös, lange bekannt, viel diskutiert und doch tut sich nichts: Frauen in Deutschland verdienen – trotz freiwilliger Vereinbarungen mit der Wirtschaft
und der Möglichkeit kostenloser Selbsttestungen für Unternehmen – unverändert etwa ein
Viertel weniger als die Männer. Freiwillig tut sich nichts! Die Umsetzung des Rechts auf gleiche Bezahlung für gleiche und gleichwertige Arbeit muss gesetzlich geregelt
werden. Olaf Scholz als Arbeitsminister hat zum mehr

Debatte: Abbau der Arbeitslosigkeit durch demographischen Wandel?

von Ulrich Walwei

Der demographische Wandel ist durch zwei wesentliche Faktoren gekennzeichnet.
Aufgrund von Geburtenmangel und längerer Lebenserwartung schrumpft und altert
die Bevölkerung. Infolge dessen wird das gesamtwirtschaftliche
Arbeitsangebot in der absehbaren Zukunft sinken. Da auch die geburtenstarken
Jahrgänge zunehmend in die Jahre kommen, wird sich dieser Trend verstärken.
Nach Vorausberechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
dürfte die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte von heute gut 44 Mio. auf gerade noch 41
Mio. im Jahre 2025 sinken. 
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Debatte: Abbau der Arbeitslosigkeit durch demographischen Wandel?

von Ernst Kistler

Der demographische Wandel (dW) wird bereits mittelfristig zu einem deutlich höheren
Anteil älterer Personen auch im Erwerbsalter und langfristig zu einem deutlich kleineren Angebot an Arbeitskräften führen (bei erheblichen nationalen und regionalen Unterschieden). Kurz- und mittelfristig bedeutet das jedoch keinesfalls automatisch einen Mangel an Fach- oder gar allgemein an Arbeitskräften. Es gibt auch aktuell keinen Fachkräftemangel: Das Thema hat, wie die Bundesagentur 2002
betonte, eine hohe Affinität zu Arbeitgeberinteressen – die Arbeitskräfte durch ein Überangebot an Arbeit willig und billig zu halten.  mehr

Für mich ist Kunst gleichzeitig Geheimnis und Geheimnisverrat

von Klaus Staeck

Interview mit Klaus Staeck über Kultur, Politik, graue Brötchen und phantastische Torten mehr

Einleitung zum Schwerpunkt: Gesundheitsgerecht -Soziale Gesundheitspolitik und -wirtschaft

von Felix Welti

Die gesundheitspolitischen Diskussionen im Bundestag folgen in jeder Wahlperiode
ähnlichen Grundmustern: Es geht um Kostenverteilung zwischen Versicherten und
Arbeitgebern und um Kostendämpfung zwischen Versicherten und Leistungserbringern. Die Auseinandersetzungen in diesem Dreieck,
stehen primär unter der Frage, welcher Anteil am Sozialprodukt für das Gesundheitswesen aufgewandt wird und wer ihn aufzubringen
hat. Dieser verteilungspolitische Konflikt, der auch die Verteilung zwischen Arbeit und Kapital, die Umverteilung unter den Beschäftigten und die Solidarität mit chronisch kranken und behinderten Menschen betrifft, ist nicht unmodern.
Er ist auch heute wieder zu führen. mehr

Gesundheit – Wirtschaft – Innovation Aspekte eines integrierten linken Diskurses

von Uwe Kremer

Dieser Aufsatz konzipiert „Gesundheit“ als Feld einer umfassenden Reform-, Umbau-
und Wachstumsperspektive im Sinne der spw-Ausgaben 169 (New Deal) und 177
(Wachstum neu denken!) auf zwei Säulen: auf den Achsen „Umwelt“ (inkl. Energie) sowie „Gesundheit“, wobei beide in Wechselwirkung stehen. Die Argumentation tritt der gegensätzlichen Behandlung von „Gesundheit“ aus sozialpolitischer (bzw. im engeren Sinne „gesundheitspolitischer“), wirtschafts- sowie forschungspolitischer Sicht entgegen. Ziel der Überlegungen ist ein verbindender Diskurs, in dem das Spannungsverhältnis verschiedener Sichtweisen in einer fortschrittlichen
bzw. modernen sozialistischen Perspektive produktiv wird.
Im Bereich „Energie & Umwelt“ ist eine ganzheitliche offensive Konzeption in Sichtweite.

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Gesundheitswirtschaft als Beschäftigungsmotor oder Gesundheitsrisiko?

von Bernard Braun, Joachim Larisch

Die Gesundheitswirtschaft als „Jobmotor“ ist eines der stärksten Pro-Argumente für ihre Weiterentwicklung. Dies kritisch zu überprüfen ist aber gar nicht so einfach. So weist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für den Zeitraum von 1996-2005 einen Anstieg von 4,195 Mio. auf 4,739 Mio. Erwerbstätige aus, so dass sich ein oft von Protagonisten der Gesundheitswirtschaft zitiertes jährlich durchschnittliches Beschäftigungswachstum von etwa 1,3% ergibt (gesamte durchschnittliche Erwerbstätigkeit in Deutschland durchschnittlich + 0,4%). Mit einem Anteil von gut 12% aller Erwerbstätigen ist die Gesundheitswirtschaft ein bedeutender Beschäftigungsbereich (vgl. Ostwald 2009: 143ff.).
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Globale Verantwortung für Gesundheit Über den Aufbau und die Verteidigung solidarisch verfasster Gesundheitssysteme als Teil sozialen Eigentums

von Thomas Gebauer

In der Auseinandersetzung über die Kopfpauschale geht es um mehr als ökonomische Fragen. So oft die schwarz-gelbe Bundesregierung vermeintliche fiskalische Zwänge ins Feld führt, rüttelt sie doch auch an den politischen
Grundfesten der Gesellschaft. Sozialstaatliche Institutionen, nicht zuletzt ein solidarisch verfasstes Gesundheitswesen, sind nicht nur Kostenfaktoren. Zuerst sind sie Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts. Wer ihre Aushöhlung in Kauf nimmt, verbreitet
Existenzsorgen und riskiert damit den Freiheitsgewinn, der mit der Befreiung aus sozialer
Unsicherheit und Not einhergeht. Wie weit dies im Extrem rückwärts führt, mehr

In und nach der Krise: Gesundheit und Gute Arbeit unter Druck

von Klaus Pickshaus

Werden psychische Störungen wie Burnout zur Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts?
Psychisch verursachte Fehlzeiten steigen seit zehn Jahren steil an. Die Belastungen
in der Arbeitswelt wandeln sich langfristig. Psychische Fehlbelastungen haben eine
größere Bedeutung für Krankheiten von Beschäftigten. Dies reflektiert Veränderungen
in den Rationalisierungsstrategien der Unternehmen mit widersprüchlichen Folgen. Arbeitskraftorientierte Managementkonzepte haben das Ziel, stärker auf Potentiale und

Ressourcen der Arbeitskraft zuzugreifen, was zugleich Handlungsspielräume und Selbständigkeit in der Arbeit vergrößern kann. Doch was zuerst als humanisierungspolitischer Fortschritt erscheint, bringt auch Arbeitenohne Ende und schleichenden Gesundheitsverschleiß. 

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Finanzierung und Versorgungsqualität

von Karl Lauterbach, Markus Lüngen

In der Diskussion um eine Gesundheitsreform drängt sich der Eindruck auf, dass es
nur um politische Befindlichkeiten geht. Dies ist jedoch falsch. Die politische Diskussion hat einen harten Kern, die Entscheidung zwischen Kopfpauschale und Bürgerversicherung. Diese Ausgestaltung der Finanzierung hat nicht nur Verteilungswirkungen für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV). Sie wirkt darüber hinaus auch auf die Qualität der Versorgung und den Zugang zu
Leistungen. Es geht um mehr als Parteipolitik und Wählerinteressen. mehr

Kopfpauschalen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Eine kritische Analyse auf der Basis internationaler Erfahrungen

von Stefan Greß, Simone Leiber

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat nach verschiedenen Anläufen Eckpunkte für
eine Finanzierungsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vorgelegt. Nachdem vorangegangene Umsetzungsversuche der im Koalitionsvertrag beschlossenen Pauschalfinanzierung mit einem steuerfinanzierten
Sozialausgleich an der Uneinigkeit der Koalitionspartner scheiterten, wird nun ein Weg beschritten, der an den bereits im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
2007 angelegten Strukturen anknüpft. So werden die damals eingeführten individuellen Zusatzbeiträge ausgebaut und sollen künftig ausschließlich als Pauschalen erhoben werden. Die bislang geltende Obergrenze von
37,50 € pro Monat für die Zusatzbeiträge entfällt.
Damit entwickelt sich die GKV deutlich weiter in Richtung eines Kopfpauschalensystems.
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Gesundheitsreform in den USA: Der Sozialstaat gewinnt

von Leonhard Hajen

Senator Edward Kennedy hat dreißig Jahre lang für eine Gesundheitsreform in den USA gekämpft, die allen Amerikanern Sicherung im Krankheitsfall garantieren sollte. Kurz bevor er an einem Gehirntumor verstorben ist, hat er Präsident Obama in einem Brief noch einmal seine Motive erläutert. Er war Vater von zwei Kindern, die beide an Krebs erkrankt waren. Moderne Medizin hat sie geheilt. Für ihn war unerträglich, so schreibt er, dass es amerikanische Familien gibt, die in der gleichen Lage
wissen, dass es das heilende Medikament gibt, aber weil sie es nicht bezahlen können, müssen ihre Kinder sterben. Einfacher kann man nicht sagen, was ein
Gesundheitssystem leisten soll: Die Fortschritte der Medizin müssen allen Menschen
unabhängig von ihrem Einkommen zugute kommen. Die USA sind wie kein anderes Land durch eine Ideologie von Markt und Eigenverantwortung geprägt. Aber die USA haben auchimmer wieder bewiesen, dass Solidarität und die Verantwortung für Andere eine Wurzel ihrer Kultur ist.   mehr

Kinderspiel Kapitalismus: Nach dem Sommerloch

von Thomas Strohschneider

Ob früher alles besser war? Was für eine Frage! Natürlich. Selbst das Sommerloch war irgendwie breiter und tiefer. Problembär Bruno ließ die Massen mitfiebern und bei jeder Nachricht über Killerwels Kuno geriet unsere heimliche Dackelabneigung in Wallung. Überhaupt: Was waren das noch für Zeiten, als an besonders heißen Tagen Fußfesseln für Schulschwänzer oder Gratis-Handys für Obdachlose gefordert wurden. Heutzutage gilt das Sommerloch nur noch wenigen Politikern als ernst zunehmendes Fach. Stattdessen bekommen wir was geboten? Irgendeinen neuen Koalitionskrach. Langweilig!   mehr

Haushaltskonsolidierung und Konjunktur

von Arne Heise

Die Bundesregierung feiert sich selbst: Durch ihre Konjunkturprogramme, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz (WBG) und das jüngst verabschiedete
Sparprogramm („Zukunftspaket“) sieht sie nicht nur die Weichen für eine nachhaltige
konjunkturelle Erholung gestellt, sondern auch die Konsolidierungsanforderung aus der neuen Schuldenregel des Grundgesetzes (maximale Netto-Neuverschuldung von 0,35 Prozent des BIP ab 2016) weitgehend erfüllt. Eine Betrachtung der Wirtschaftsdatenkommt zu einem etwas vorsichtigeren Ergebnis
(vgl. Tab. 1): Tatsächlich ist die Rezession seit dem positiven Wachstumsergebnis des 1. Quartals 2010 zunächst überwunden und auch die Schätzungen des abgelaufenen 2. Quartals und des gesamten Jahresverlaufs 2010 deuten darauf hin, dass die schärfste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik hinter uns
liegt.   mehr

Von Lissabon zu Europa 2020 – Die EU vergibt eine weitere Chance

von Matthias Ecke

Im Schatten der Eurokrise ist der Brüsseler Politik ein wahrer Taschenspielertrick gelungen. Während die eine Hand die Kastanien aus dem Feuer holte, schrieb die andere den Schlachtplan für die nächsten zehn Jahre.
Denn am 17. Juni 2010 wurden die Kernelemente für „Europa 2020“, der Nachfolgeagenda der Lissabon-Strategie, vom Europäischen Rat beschlossen. Zeit für einen Rückblick und eine Bewertung der neuen Agenda, verbunden mit der Frage, welche strategische Haltung eine sozialdemokratische Linke zur zunehmenden
Europäisierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik einnehmen sollte. mehr

Crossover-Projekt Zukunftsvertrag

von Marco Bülow

Crossover muss mehr sein als nur eine Machtoption. Abgrenzung gegenüber den
bürgerlichen Parteien und Scharmützel in Nuancen werden für eine tragfähige und
verändernde Politik nicht ausreichen. Wenn das linke politische Spektrum in Zukunft
zur vorherrschenden Kraft werden möchte, muss trotz aller Unterschiede die Einsicht
reifen, mehr miteinander als gegeneinander zu arbeiten. mehr

Rezension: Die IG Metall und ihre Jugendarbeit – Generationenkonfl ikte, Netzwerke, Wirkungen

von Daniel Steffens, Stephan Klecha

Seit einigen Jahren bescheinigt die Sozialforschung der Jugend ein lediglich punktuelles politisches Interesse. Ihr Engagement sei bestenfalls noch kurzzeitig und projektbezogen. Zwar klingt dieser Befund differenzierter als die pauschale Zuschreibung, die Jugend sei absolut unpolitisch, doch scheint er als Voraussetzung für eine nachhaltige Jugendarbeit von politischen, gewerkschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Organisationen problematisch, deren Identität und Kollektivität sich nicht zuletzt über ihre Jugendarbeit prägen und erhalten. mehr

Personen und Positionen Juso-Bundeskongress Essen: LINKS.KONKRET.GERECHT.

Fünf Fragen an Benjamin Mikfeld