Kasten: Im Anschluss an die Aufführung des Theaterstückes "Marx in Soho" im Staatstheater Kassel hatte der Intendant Prof. Christian Nix das Publikum zu einer Gesprächsreihe eingeladen, die mit Beiträgen von und über Marx eröffnet wurden. spw dokumentiert in diesem und den nächsten Heften diese einleitenden Beiträge und beginnt mit nachfolgenden Text von spw-Herausgeber Horst Peter.

Marx im Gespräch

Der Mensch und die Natur

Von Horst Peter

Horst Peter, Miterhausgeber der spw und Vorsitzender des Vereins zur Förderung von Demokratie und Völkerverständigung.


Nach der aufmerksamen Teilhabe an der Rückkehr von Marx nach Soho stellt sich für mich eine drängende Frage: Warum hatte Marx in dem Stück ein weitgehendes Diskussionsverbot? Etwa, weil er uns nichts mehr zu sagen hat, da ihm und uns das handelnde gesellschaftliche Subjekt verloren gegangen ist, die Arbeiterklasse? Oder etwa, weil er uns zeitnah als fundamentaler Kritiker des Kapitalismus mehr zu sagen hat, als der Gemeinde des neoliberalen Zeitgeistes genehm sein kann?

Es lohnt sich dieser Frage nachzugehen. Ich will mit Marx in ein fiktives Gespräch eintreten über das, meines Erachtens, existenzielle Hauptproblem der Menschheit, ob es gelingt mit der Natur so sorgsam umzugehen, dass auch künftige Generationen eine Lebensperspektive haben oder ob der globale Kapitalismus in seinem Streben die Erde insgesamt dem Kapitalverwertungsprinzip zu unterwerfen, die natürlichen Grundlagen seiner Produktivität selbst zerstört. Wenn Marx zu dieser Zukunftsfrage etwas zu sagen hat, lohnt es sich mit ihm ins Gespräch zu kommen. Dabei sind wir auf Originaltexte von Marx angewiesen, auch wenn sie in der ihm eigenen Sprache des 19. Jahrhunderts abgefasst sind und uns die PISA-Studie aktuell mitteilt, dass die deutsche Schule Schwierigkeiten hat, das Verständnis von Texten zu vermitteln - nicht nur ein Problem von Schülerinnen und Schülern, sondern auch von Erwachsenen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Fragen wir zunächst, wie Marx das Verhältnis des Menschen zur Natur sieht, stellen wir ihm die Naturfrage. "Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur, ist die Bewährung des Menschen als eines bewussten Gattungswesens. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit" (Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, MEW, Ergänzungsband I, S. 516). "Der Mensch lebt von der Natur. Heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben. Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur" (ebenda S. 516 f.). Aha! Für Marx ist die produktive Tätigkeit der Menschen entscheidend zum Menschsein. Die produktive Tätigkeit des Menschen ist die schöpferische Potenz, die mit Hilfe von Wissenschaft und Technik sich selber die Welt aufbaut. Gleichzeitig ist der Mensch als Teil der Natur in die Gesamtnatur eingebunden. Geschichte als Gestaltung der Welt durch den Menschen bleibt immer zugleich Teil der Produktivität der Natur.

Die Produktivität der Natur setzt also der Produktivität der menschlichen Tätigkeit Grenzen. Angesichts der ökologischen Probleme der Industriegesellschaften wie der Zerstörung natürlicher, nicht erneuerbarer Ressourcen, riesiger Abfallberge, des Klimawandels, von Erosionskatastrophen, Wüstenbildung, ökologischem Umkippen von Seen und Flüssen scheinen die Grenzen der gegenwärtig herrschenden Produktionsweise bereits in Sichtweite.

Wieso gehen die Menschen sehenden Auges diesen Weg, wäre die nächste Frage an Karl Marx. "Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen erstens die Natur, zweitens sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Die entfremdete Arbeit macht also drittens das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eigenen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen" (ebenda). Das heißt nichts anderes, als "Sie wissen nicht, was sie tun.": Die Menschen gestalten die Welt im Stoffwechsel mit der Natur und sehen die Zusammenhänge nicht und auch nicht die Folgen für sich selbst, die Natur und künftige Generationen. Der die menschliche Existenz tragende Naturzusammenhang ist den Menschen verloren gegangen. An die Stelle eines bewussten Gattungsleben in Verantwortung für die gesellschaftlich und im Einklang mit der Natur zu bewältigenden Aufgaben, treten gesellschaftlich-bewusstlos hervorgebrachte Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, die Mensch und Natur ihre blinden Entwicklungsgesetze aufdrücken. Für Marx ist der Kapitalismus der Höhepunkt der entfremdeten Produktion und Konsumtion. Deshalb verdient diese Produktion fundamentale Kritik: sie steht der Entfaltung des Menschen im Einklang mit der Natur im Wege.

"Wie also die auf das Kapital gegründete Produktion einerseits die universelle Industrie schafft, andererseits ein System der allgemeinen Exploration der natürlichen und menschlichen Eigenschaften, ein System der allgemeinen Nützlichkeit, als dessen Träger die Wissenschaft selbst so gut erscheint, wie alle physischen und geistigen Eigenschaften, während nichts als An-sich-Höheres, Für-sich-selbst-Berechtigtes, außer diesem Zirkel der gesellschaftlichen Produktion und Austausch erscheint. So schafft das Kapital erst die bürgerliche Gesellschaft und die universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst durch die Glieder der Gesellschaft... Die Natur wird erst ein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden, und die theoretische Erkenntnis ihrer selbstständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion, zu unterwerfen" (Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 312). Ganz schön komplex und kompliziert. Aber es trifft den Kern: Industrie und Wissenschaft sind einerseits die gesellschaftlich produktiven Kräfte, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, andererseits gefährden sie ihre produktive Basis, den Menschen und die Natur, da sie in entfremdeter Form wirken. Im Auftrag der kapitalistischen Akkumulation beuten sie die Menschen wie die Natur aus.

"Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben. Jeder Fortschritt in der Steigerung der Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist ist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quelle dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozess. Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Sprungquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 529 f.). Natur und Arbeit sind also die Basis des Reichtums: Sie werden im kapitalistischen Produktionsprozess zwangsläufig untergraben. Das ist der ökologische Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise. "Die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch

Wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft". (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 15)

Das geht in Richtung der politischen Arbeiterbewegung, die die Natur als Quelle des Reichtums bis heute vernachlässigt und damit die destruktiven Folgen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses nur halb versteht.

Ich frage, ob Marx auch die Handlungsorientierungen aus dem ökologischen Krisenmechanismus des Kapitalismus gibt.

"Antizipation der Zukunft - wirkliche Antizipation findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt in Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion" (Theorie über den Mehrwert, MEW 26/3, S. 303)

Die Lösung ergibt sich aus dem Doppelcharakter von Industrie und Wissenschaft und ihre revolutionäre Aneignung durch die "vereinigten Individuen in Allianz mit der Natur".

"Die positive Aufhebung des Privateigentums als Ursache menschlicher Selbstentfremdung ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen und der Natur und mit dem Menschen."

Oder noch differenzierter:

"Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur."

Die Entfremdung haftet also dem Mensch-Natur-Verhältnis nicht naturnotwendig an, sondern ist durch die bewusstlos hervorgebrachte gesellschaftliche Praxis entstanden. Deshalb kann das bewusst und solidarisch handelnde Individuum die gesellschaftliche Praxis bewusst gestalten und die Entfremdung aufheben. In der gesellschaftlich bewusst übernommenen Verantwortung für die gesellschaftliche Praxis durch die freie solidarische Vereinigung der Individuen begreifen diese ihre produktive Tätigkeit aus dem lebendigen Zusammenhang mit der Natur. Sie treten in eine "bewusste Allianz mit der Natur ein" (Bloch).

Welche ist nun die Grundrichtung dieses Gestaltungsprozesses?

"Selbst die ganze Gesellschaft, eine Nation, selbst alle gleichberechtigten Gesellschaften zusammen genommen sind nicht die Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen (Kapital Bd. 3, MEW 25, S. 784).

Fürwahr ein ökologischer Imperativ zur Lösung der Naturfrage! Er richtet sich an alle Produzierenden: die Lohnarbeiter, die Bauern, die selbstständigen Handwerker, aber insbesondere die Frauen, die mit der Pflege und Erziehung unentbehrliche produktive Tätigkeit ausüben, ausdrücklich nennt Marx auch die Intellektuellen.

Nur über die Menschen als Teil der Natur kann sich die Natur gegen die Zerstörung zur Wehr setzen.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Der ökologische Marx hat uns tatsächlich mehr zu sagen als der neoliberale Zeitgeist verträgt: die ökologische Krise gehört untrennbar zur sich globalisierenden kapitalistischen Produktionsweise.

Wir müssen fragen:

- Ist die Naturkrise innerhalb des globalen Industriesystems lösbar?
- Gibt es für eine naturverträgliche Wirtschaftsordnung einen praxisfähigen Entwicklungsweg?
- Ist die Einbeziehung der Natur in das wissenschaftlich-technische Fortschrittsmodell der Moderne realisierbar?

Der ökologische Marx fordert die Politik zum konzeptionellen Handeln heraus!

Hervorhebung:

Nur über die Menschen als Teil der Natur kann sich die Natur gegen die Zerstörung zur Wehr setzen.

e-Mail | Inhaltsverzeichnis aktuelles Heft