Kommt
der Frauenbewegung ihr Subjekt abhanden?
Von
Antonia Freytag
Antonia Freytag, geb. 1975, Politologin,
wohnt in Köln.
Der Text ist eine überarbeitete Fassung eines Referats im Theoriekreis
des Vereins zur Förderung der politischen Kultur e.V. (Kulturverein).
In den neunziger Jahren gewann der amerikanische feministische Diskurs
zunehmenden Einfluss auch auf die deutsche Frauenforschung. Mit den dort
entworfenen postmodernen Theorien wird nun kaum mehr von Frauen-, sondern
vielmehr von Geschlechterpolitik gesprochen. Um die Bedeutung von Geschlecht
und Geschlechterrollen wurden seither harte Kontroversen geführt.
Was aber steht dahinter? Welches sind die heute zentralen Positionen?
Auch wenn keine endgültigen Antworten gefunden werden können,
ist schließlich danach zu fragen, welche Konsequenzen das gewandelte
Verständnis von Geschlecht für die aktuelle Politik hat. Bedeutet
die Dekonstruktion des Geschlechts durch die postmoderne Theorie das Aus
für die Frauenbewegung?
Natürliche Verschiedenheit der Geschlechter
In allen Kulturen und zu allen Zeiten gab es Vorstellungen über
die Unterschiede der Geschlechter. In Westeuropa dominierte über
Jahrhunderte die Idee von einer natürlichen, biologischen Verschiedenheit.
Noch bis ins 18. Jahrhundert folgte die herrschende Meinung Aristoteles,
der schrieb: "Das Weib ist Weib durch das Fehlen gewisser Eigenschaften.
Wir müssen das Wesen der Frauen als etwas betrachten, was an einer
natürlichen Unvollkommenheit leidet." (zit.n. Beauvoir, 1951,
S.10,16). Auch die aufgeklärte, bürgerliche Romantik begriff
die Frau als das vom Mann abweichende, ihn ergänzende Prinzip. Mit
den entstehenden Wissenschaften erhob die Annahme der naturgegebenen Verschiedenheit
und der gegenseitigen Ergänzung der Geschlechter erstmalig wissenschaftlichen
Anspruch. Der Rückgriff auf die Natur war die neuzeitliche Variante
der Begründung und Legitimation der Geschlechterungleichheit, reichte
doch zuvor der Hinweis auf göttliche Bestimmung und christliche Ordnung,
der zufolge die Frau dem Mann zu dienen habe. Auch die für die Gleichheit
der Geschlechter kämpfende erste Frauenbewegung im 19. Jahrhundert
ging noch von einer biologischen, natürlichen Verschiedenheit der
Geschlechter aus, so dass Mann und Frau nicht gleich, aber gleichwertig
definiert wurden.
Dieser Ansatz wurde im 20. Jahrhundert weiterentwickelt zur essentialistischen
Interpretation von Natur und Körper. Seit der Studierendenbewegung
der späten sechziger Jahre lebt die Wahrnehmung des Weiblichen als
anders, z.T. sogar als dem Männlichen überlegen auf. Die amerikanische
Feministin Mary Daly geht z.B. von einer anderen, weiblichen Welt aus,
die sich grundsätzlich (positiv) vom Patriarchat unterscheide. Sie
setzt dabei Patriarchat und Männer gleich, sieht Männer qua
Geschlecht als gewalttätig, mörderisch und machthungrig an,
während Frauen moralisch überlegen seien. Damit folgt sie einem
eindeutig biologischen Ansatz der Geschlechterdefinition. Auch die französische
Psychologin Luce Irigaray folgt der biologischen Definition und plädiert
sogar für die Verstärkung des Geschlechtsunterschiedes und die
Entwicklung einer eigenen weiblichen Ökonomie, Religion, Genealogie
und Sprache sowie für eine symbolische Ordnung, in der auch die geschlechtliche
Identität repräsentiert werden kann. Ihr Ziel ist die gegenseitige
Anerkennung der spezifisch weiblichen und männlichen Identität.
Ebenso plädieren die italienischen Feministinnen des "affidamento",
das "Vertrauen" oder auch "Anvertrauen" meint, für
eine Politik der Differenz, damit Frauen ein neues Selbstbewusstsein und
aktive Solidarität entwickeln und erleben können. Eine zentrale
Rolle kommt hier der Entwicklung von Beziehungen zwischen Frauen zu, die
jedoch nicht autoritär, sondern schwesterlich gestaltet sein sollen.
Die Anerkennung der Unterschiede zwischen einzelnen Frauen bildet die
Grundlage für die Akzeptanz der Geschlechtsunterschiede.
In der Politik führt der biologische Ansatz beispielsweise zur Entwicklung
von Parteien wie der Feministischen Partei DIE FRAUEN, die explizit die
Auffassung vertreten, Frauen würden eine bessere Politik gestalten
als Männer. Auch die Grünen erwarteten von mehr Mütterlichkeit
positive Veränderungen der Gesellschaft. So erschien 1986 im Kontext
eines grünen Frauenkongresses das "Müttermanifest",
mit dem auch in der Linken Politik mit mehr Mütterlichkeit, im Sinne
von mehr Naturnähe und Emotionalität, verknüpft werden
sollte.
Geschlechterdifferenz: sex und gender
Simone de Beauvoir beschreibt zu Beginn ihres erfolgreichen Buches
"Das andere Geschlecht" von 1949, dass die Frau bislang aus
dem männlichen Blickwinkel definiert wurde: "Jedenfalls ist
sie nichts anderes, als was der Mann befindet; so spricht man auch von
ihr als vom ´anderen Geschlecht´, worin sich ausdrückt,
dass sie dem Mann in erster Linie als Sexualwesen erscheint: da sie es
für ihn ist, ist sie es ein für allemal. Sie wird bestimmt und
unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf
sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das
Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere." (Beauvoir, 1951,
S.11). Nach Beauvoir ist die Teilung der Geschlechter grundsätzlich
etwas biologisch Gegebenes, aber diese natürlichen Voraussetzungen
genügen nicht zur Erklärung von Hierarchie und Ungleichheit.
Der biologische Unterschied allein verursacht noch nicht die untergeordnete
Stellung der Frau. Entscheidend ist, dass beim Menschen, im Gegensatz
zum Tier, neben die biologischen Voraussetzungen eine historische, eine
soziale Wirklichkeit tritt. Mit dieser formuliert Beauvoir einen zweiten
Bestimmungsfaktor von Geschlecht neben der Biologie. Die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern und besonders die Unterdrückung und Diskriminierung
von Frauen werden als Ergebnis der Geschichte, der Sozialisation begriffen
und sind somit grundsätzlich veränderbar.
Auch die amerikanische Historikerin Gerda Lerner nimmt diese Unterscheidung
zwischen dem biologischen und historischen oder sozialen Geschlecht vor.
Sie sieht in dem sozialen Geschlecht die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen
an Frauen und Männer, die kulturell und historisch bedingt sind.
Die englische Sprache bietet - im Vergleich zur deutschen - eine präzisere
Differenzierung von Geschlecht an mit gender als sozialem und sex
als biologischem Geschlecht, so dass diese Begrifflichkeit in die feministische
Theorie übernommen wurde. Die Unterscheidung zwischen sex
und gender, wie sie gegenwärtig auch in Deutschland diskutiert
wird, ist in den USA in den siebziger Jahren im Kontext der feministischen
Bewegung wissenschaftsfähig geworden. Sex wird demnach determiniert
durch Anatomie, Morphologie, Physiologie und Hormone, während gender
den erworbenen Status meint, sozial und kulturell geprägte Geschlechtscharaktere,
die durch Sozialisationsprozesse angeeignet werden. Sandra Harding beschreibt
das Geschlecht als gesellschaftliches Konstrukt, durch das in verschiedenen
Differenzierungen soziale Geschlechtsidentitäten entstehen. Dieser
Ansatz wurde als konstruktivistische Interpretation in der Kontroverse
um die Rolle von sex und gender bezeichnet. Die Bestimmung
des Geschlechts als Ergebnis der Sozialisation rückte in den Mittelpunkt
des feministischen Denkens. Viel diskutiert wurde jedoch die Frage, wie
viel im einzelnen durch die biologische Fixierung festgelegt ist und wo
genau die Sozialisation beginnt.
Im deutschen feministischen Diskurs waren es zunächst v.a. die Arbeiten
von Carol Hagemann-White, die den Ansatz der "social construction
of gender" rezipierten und kritisierten. Vor allem wies die Autorin
darauf hin, dass sich die Theorien der geschlechtsspezifischen Sozialisation
nicht davon lösen, die Geschlechterverhältnisse als natürlich
zu betrachten. (Hagemann-White, 1988, S.230). Im Gegenteil, gerade die
Unterscheidung zwischen einem biologischen und einem sozialen Geschlecht
ist, so Hagemann-White, im Kern biologistisch, denn ein Teil der Geschlechtszuordnung
wird als "Natur" festgeschrieben, "um davon die bloß
anerzogenen Eigenschaften und Erwartungen trennen zu können"
(ebd.). Die sex/gender-Trennung, die der Abwehr biologistischer
Positionen dienen sollte, bleibt bei der Annahme, dass es jenseits der
Kultur doch noch eine Natur der Geschlechter gibt, so dass der strategische
Sinn begrenzt bleibt.
Dekonstruktion des Geschlechts
In den neunziger Jahren erreichte der amerikanische Gender-Diskurs
schließlich auch Deutschland. Wahrgenommen wurde hier besonders
der Ansatz der Philosophin Judith Butler, die in ihrem einflussreichen
Buch "Gender Trouble" (1990) die These vertrat, nicht nur das
soziale Geschlecht gender, sondern auch das biologische Geschlecht sex
sei kulturell, also gesellschaftlich konstruiert. Geschlechtlichkeit ist
nach Butler weder anatomisch noch biologisch vorgegeben. Geschlecht kann
als offene Kategorie, als zu bestimmende und gestaltende Welt begriffen
werden. Mit der Dekonstruktion der meist heterosexuell bestimmten Zweigeschlechtlichkeit
(z.B. in der Transsexualität, der Bi- und Homosexualität) wird
das Geschlecht eine jeweils neu zu verhandelnde und zu entwerfende Identität.
Die Klassifizierungen werden, so auch Helga Ostendorf, von den Beteiligten
selbst hervorgebracht und sind nicht natürlich vorgegeben (Ostendorf,
1999, S.153). Geschlecht und Geschlechtsidentität betrachtet Butler
als Effekte von Machtverhältnissen, als Normen und Zwänge. Dadurch
wird Identität zu einer politischen Kategorie.
Die Amerikanerin Judith Lorber versucht, diese Thesen an ethnologischen
Untersuchungen zu beweisen: Sie zeigt, dass es in manchen Gesellschaft
drei Geschlechter gibt, z.B. Männer, Frauen und Berdachen oder Hijras
oder Xaniths. Letztere sind "biologische Männer, die sich als
soziale Frauen verhalten und kleiden, als Frauen arbeiten und in fast
jeder Hinsicht als Frauen behandelt werden; sie sind daher keine Männer,
aber auch keine weiblichen Frauen; sie sind, in unserer Sprache, ´männliche
Frauen´." Umgekehrt gibt es in einigen afrikanischen und indianischen
Gesellschaften ein drittes Geschlecht, "Frauen mit Männerherz"
genannt, die als biologische Frauen in der sozialen Rolle eines Mannes
arbeiten, heiraten und Kinder erziehen: "Um die sozialen Pflichten
und Vorrechte von Ehemännern und Vätern zu haben, müssen
sie sich nicht wie Männer verhalten oder kleiden; was sie zu Männern
macht, ist genügend Reichtum, um sich eine Ehefrau zu kaufen."
(Lorber, 1999, S.60-61). In einigen Kulturen können Menschen im Laufe
ihres Lebens ihr Geschlecht wechseln, ohne dies mit einem Irrtum bei der
ersten Zuweisung begründen zu müssen. Auch Candace West und
Don Zimmerman weisen auf "cross-genders" und Gesellschaften
mit mehr als zwei Geschlechtern hin. In westlichen Industriegesellschaften
hingegen müssen Intersexuelle und Hermaphroditen sich bald nach der
Geburt Operationen unterziehen, um entweder dem Bild der Frau oder dem
des Mannes zu entsprechen. Der soziale Rahmen gender begrenzt die
zahlreichen potentiellen Möglichkeiten von Geschlecht, die sich aus
verschiedensten Kombinationen von Genitalien, Hormonen, Körperformen,
Kleidung, Verhalten, Sexualität und Rollen entwickeln können.
Demnach entstehen vergeschlechtliche Menschen "nicht aufgrund einer
Physiologie oder einer sexuellen Orientierung, sondern aufgrund der Erfordernisse
der sozialen Ordnung, zumeist aufgrund der Notwendigkeit einer verlässlichen
Arbeitsteilung bei der Nahrungsproduktion und der sozialen (nicht physischen)
Reproduktion neuer Mitglieder." (Lorber, 1999, S.82). Von den biologischen
Grundlagen ausgehend, unterscheiden nicht Menstruation, Milchbildung und
Schwangerschaft Frauen von Männern, denn nur einige Frauen sind schwanger,
manche Frauen haben keine Gebärmutter oder keine Eierstöcke.
Bei einigen Männern kommt es zur Milchbildung und nicht alle Männer
produzieren Sperma. Die Biologie nimmt keine so strenge Trennung in zwei
Geschlechter vor wie das Alltagsverständnis es tut. Die Geschlechter
(sex) werden verstanden "als Kontinuum, bestehend aus dem genetischen
Geschlecht, dem Keimdrüsengeschlecht und dem Hormongeschlecht´,
[..] wobei die einzelnen Kriterien, die zur Geschlechtsbestimmung herangezogen
werden, weder notwendig kongruent sein müssen noch als unabhängig
von der Umwelt aufgefasst werden können." (Lorber/Farell, 1991,
S.7). Es stellt sich die Frage, wer entscheidet, bei welcher Konstellation
von Anatomie, Hormonen und Chromosomen welches Geschlecht zu bestimmen
ist. Gesellschaftliche Verabredungen, überlieferte und nicht hinterfragte
Normen sind hier von zentraler Bedeutung. Die Biologie löst nicht
ein, was Sozialwissenschaften und Alltagsverständnis voraussetzen
oder wie Hagemann-White es formulierte: "Es gibt keine zufriedenstellende
humanbiologische Definition der Geschlechterzugehörigkeit, die die
Postulate der Alltagstheorien einlösen würde." (Hagemann-White,
1988, S.228; vgl. dazu auch Foucault, Sexualität und Wahrheit, 1977).
Öffnung der feministischen Theorie
Hintergrund des dekonstruktivistischen Ansatzes ist die Entdeckung der
Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, sowie die Öffnung
der feministischen Theorie für die Verschiedenheit der Frauen untereinander.
So wurde nun darauf aufmerksam gemacht, dass die bloße Zugehörigkeit
zur Genus-Gruppe ´Frauen´ weder mit gleichen Erfahrungen noch
mit identischen Problemlagen verbunden sein muss. Kritisiert wurden alle
Identitätsunterstellungen, auch die des Geschlechts, da auch sie
vorrangig zur Unterscheidung und Zuweisung von sozialem Status, von Rechten
und Pflichten dient und somit Teil eines hierarchischen Schichtungssystems
ist.
Die Polarisierung zwischen essentialistischen und dekonstruktivistischen
Ansätzen führte zu harten Auseinandersetzungen. Holland-Cunz
versucht dem eine Mittelposition gegenüberzusetzen, die der Bestimmung
von Geschlecht eher gerecht werden soll. Bei der Frage, inwiefern sex
biologisch bestimmt oder sozial konstruiert ist, betrachtet sie weniger
die äußeren Organe als vielmehr "die unwillkürlichen
und unsichtbaren Körperprozesse, die", so die Autorin, "allerdings
ebenfalls unzweifelhaft geschlechtlich different sind." Sie spricht
von einer "materiellen Eigenlogik", der diese Prozesse unterliegen,
und verbindet damit "biologisches Potential und gesellschaftlichen
Prozess". Sie versteht sex somit als "historisch gewordene,
materiale, gleichwohl eigenlogische menschliche Körperlichkeit",
die mehreren Bestimmungsfaktoren unterliege (Holland-Cunz, 1999, S.20-21).
Auch Renate Niekant argumentiert, dass das Erleben von Schwangerschaft
und Geburt als Erfahrung wenigstens einer großen Anzahl von Frauen
"als spürbare, nicht zu leugnende Materialität, als Bedingtheit
zweigeschlechtlicher menschlicher Körper und der Natur" zu betrachten
sind. (Niekant, 1999, S.37).
Geschlecht als Prozess
Zunehmend wird Geschlecht jedoch nicht mehr als körperlicher oder
sozialer Zustand, sondern als Prozess von Geschlechtsidentität und
Geschlechterbeziehungen gesehen. West und Zimmerman argumentieren, dass
Geschlecht keine Variable, keine Rolle ist, sondern das Produkt sozialen
Handelns. Worin besteht aber die soziale Herstellung von Geschlecht? Sie
stellen die These auf, dass das Geschlecht sich in der Interaktion konstituiert
und stellen die eher rhetorische Frage: "Can we avoid doing gender?"
(West/Zimmerman, 1991, S.32). Wenn eine Gesellschaft also in Frauen und
Männer unterschieden wird und die Platzierung in einer Sex-Kategorie
relevant und zwingend ist, dann ist "doing gender" unvermeidbar.
Geschlecht wird im zwischenmenschlichen Handeln hergestellt, beinhaltet
eine soziale (Re)produktion von Regeln und Strukturen durch die Individuen
in einer Gesellschaft. Soziale Realität entsteht in diesem Konzept
prozesshaft durch komplexe interaktive Praktiken. Entscheidend sind dabei
drei Faktoren:
1. die Geburtsklassifikation eines körperlichen Geschlechts
2. die soziale Zuordnung in sozial akzeptierter Darstellung
3. die intersubjektive Herstellung von Geschlecht in Interaktionsprozessen
In der jüngsten Forschung wird Geschlecht als Strukturkategorie geöffnet
für eine Differenzierung und Prozessualisierung von Ungleichheitsanalyse.
Dabei werden Strukturen differenziert als Situationen, die Akteure vorfinden
und in denen sie ihre Zwecke, langfristigen Interessen und Handlungsroutinen
unter bestimmten Bedingungen verfolgen können und müssen. Die
vorhandenen Situationen, bzw. Strukturen, wirken auf das Handeln der Akteure,
umgekehrt wirkt aber das Handeln auch auf die Struktur. So werden aus
Struktur- nun Prozesskategorien. Es geht um Konstruktionsprozesse von
Geschlecht, aber auch von Klasse, Ethnizität, Religion, Kultur und
anderen sozialen Kategorien. Der interaktive Herstellungsmodus von Geschlecht
wird für die Analyse entscheidend, also das "doing gender".
Geschlecht ist damit keine Eigenschaft mehr, sondern eine fortwährende
soziale Praxis interagierender Individuen über institutionelle Arrangements
und alltägliche wie wissenschaftliche Denkmuster.
Kommt der Frauenbewegung ihr Subjekt abhanden?
Anders gefragt: Was macht eine Frauenbewegung, wenn nicht mehr von den
Frauen gesprochen werden kann? Grundsätzlich kann die Frage,
ob auch sex und Sexualität ausschließlich sozial konstruiert
oder natürlich bedingt sind, nicht abschließend geklärt
werden. Ein großer Konsens besteht in der Frauenforschung jedoch
hinsichtlich der kulturellen Konstruktion von zwei Formen von gender.
Entpolarisiert und entpolitisiert die Dekonstruktionstheorie aber nicht
zu sehr, wenn sie auf prozesshafte Konstruktion statt biologische Bedingtheit
und Sozialisation setzt? Ulrike Teubner und Angelika Wetterer meinen,
dass die sozialen Anstrengungen, mit denen die bipolare Geschlechterordnung
aufrechterhalten wird, nun umso schärfer in den Blick kommen, gerade
weil die Zweigeschlechtlichkeit noch nicht einmal in der Natur vorausgesetzt
werden kann - warum dann also in der Gesellschaft? Daher wird auf die
Politik, die zur Konstruktion oder Stabilisierung einer rein zweigeschlechtlichen
Gesellschaft dient, besonderes Augenmerk gelenkt. (Teubner/Wetterer, 1999,
S.16) Das Festhalten an den Kategorien "Frau" und "Mann"
und den damit verbundenen Hierarchien kann nun einer viel gründlicheren
Kritik unterzogen werden. So kann die Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz
ein radikalerer Ansatz für eine feministische Politik sein, als die
bisherigen Versuche der deutschsprachigen Frauenforschung, die Differenz
zu enthierarchisieren, ohne die bipolare Ordnung selbst in Frage zu stellen.
Dekonstruktionstheorien begründen eine Politik, die geschlechtliche
Identitäten entgrenzen statt ausgrenzen soll. Schon die Zuweisung
einer Person in eine Geschlechterordnung verursacht Hierarchie und Diskriminierung,
so dass deren Aufhebung nur durch eine Abkehr von der Geschlechtszuschreibung
zu erreichen ist.
In der (sozialdemokratischen) Linken überwiegt jedoch der Sozialisationsansatz,
grundsätzlich wird von der Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen, ohne
einem Geschlecht eine höhere Bewertung zuzusprechen. Dieser Ansatz
wirkt jedoch oft verallgemeinernd und wird den unterschiedlichen Situationen
verschiedener Frauen oder Männer genauso wenig gerecht, wie den Menschen,
die sich jenseits der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit identifizieren.
Die Chance, Geschlechterhierarchie viel grundsätzlicher in Frage
zu stellen, und neue politische Interaktionsformen zu suchen, wird hier
nicht aufgenommen. Meines Erachtens ist zu fragen, ob nicht ein Neudenken
von Geschlechter(un)gleichheit jenseits der bipolaren Rollen in allen
Politikfeldern möglich und nötig wird. Ansatzpunkt muss zunächst
das Aufdecken von Geschlechterkonstruktion sein, die Entwicklung eines
kritischen öffentlichen Bewusstseins für Geschlechtszuweisungen.
Dies betrifft institutionalisierte Formen von Geschlechterkonstruktion,
z.B. in Gesetzen und Statuten, genauso wie die Zuweisung von Geschlechterrollen
im alltäglichen zwischenmenschlichen Handeln, sei es im Erwerbs-
oder Reproduktionsbereich. Eine neue Form der Identitätspolitik ist
gefragt. Solange der konstruktive Charakter und der Herstellungsmodus
der Zweigeschlechtlichkeit im Alltagshandeln undurchschaubar bleiben,
besteht die Gefahr, dass sie reproduziert werden.
Literatur zum Weiterlesen
Neben den AutorInnenangaben finden sich zur Orientierung jeweils kurze
Hinweise zu Herkunft und Beruf.
Beauvoir, Simone de (frz. Philosophin): Das andere Geschlecht, Hamburg
1951.
Becker-Schmidt, Regina (dt. Soziologin) und Knapp, Gudrun-Axeli (dt. Sozialpsychologin):
Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg 2000
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Gender Trouble), Frankfurt a.M. 1991..
Daly, Mary (amerik. Philosophin): Gyn/Ökologie, 1978.
Foucault, Michel (frz. Philosoph): Sexualität und Wahrheit, Frankfurt
a.M. 1977.
Hagemann-White, Carol (dt./amerik. Soziologin): Wir werden nicht zweigeschlechtlich
geboren..., in: diess. und Rerrich, Maria S. (Hg.): FrauenMännerBilder,
Männer und Männlichkeit in der feministischen Diskussion, Bielefeld
1988, S.224-235.
Haraway, Donna (amerik. Philosophin): Die Neuerfindung der Natur, Primaten,
Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./ New York 1995.
Harding, Sandra (amerik. Soziologin): Feministische Wissenschaftstheorie,
Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg
1990.
Holland-Cunz, Barbara (dt. Politologin): Naturverhältnisse in der
Diskussion, Die Kontroverse um "sex and gender" in der feministischen
Theorie, in: Bauhardt, Christine und Wahl, Angelika von (Hg.): Gender
and Politics, Geschlecht in der feministischen Politikwissenschaft, Opladen
1999, S.15-28.
Irigaray, Luce (frz. Psychologin): Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts,
Frankfurt a.M. 1991.
Diess.: Die Zeit der Differenz, Frankfurt a.M./New York 1991.
Lerner, Gerda (amerik. Historikerin): Die Entstehung des Patriarchats,
Frankfurt a. Main 1991.
Lorber, Judith (amerik. Soziologin): Gender-Paradoxien, Opladen 1999.
Diess. und Farrell, Susan A. (amerik. Soziologin) (Hg.): The Social Construction
of Gender, Newbury Park / London u.a. 1991.
Meyer, Ursula (dt. Philosophin): Einführung in die feministische
Philosophie, München 1997.
Niekant, Renate (dt. Politologin): Zur Krise der Kategorien "Frauen"
und "Geschlecht", Judith Butler und der Abschied von feministischer
Identitätspolitik, in: Bauhardt, Christine und Wahl, Angelika von
(Hg.), a.a.O., S.29-45.
Ostendorf, Helga (dt. Politologin): Die Konstruktion des Weiblichen durch
politisch-administrative Institutionen, in: Bauhardt, Christine und Wahl,
Angelika von (Hg.), a.a.O., S.149-170.
Stephan, Inge (dt. Literaturwissenschaftlerin) und Braun, Christina von
(dt. Kulturtheoretikerin) (Hg.): Gender-Studien, Eine Einführung,
Stuttgart u.a. 2000.
Teubner, Ulrike (dt. Soziologin) und Wetterer, Angelika (dt. Soziologin):
Gender-Paradoxien: Soziale Konstruktion transparent machen, Einleitung,
in: Lorber, Judith, a.a.O., S.9-29.
West, Candace (amerik. Soziologin) und Zimmerman, Don H. (amerik. Soziologe):
Doing Gender, in: Lorber, Judith und Farrell, Susan A. (Hg.), a.a.O.,
S.125-151.
Hervorhebungen:
In allen Kulturen und zu allen Zeiten gab es Vorstellungen über die
Unterschiede der Geschlechter.
Nach Beauvoir ist die Teilung der Geschlechter grundsätzlich etwas
biologisch Gegebenes, aber diese natürlichen Voraussetzungen genügen
nicht zur Erklärung von Hierarchie und Ungleichheit.
Dekonstruktionstheorien begründen eine Politik, die geschlechtliche
Identitäten entgrenzen statt ausgrenzen soll.
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