Qualifizierung und Beschäftigung:

Umbau der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung

Diskussionspapier zur Parteivorstandssitzung am 4. März 2002

Von Benjamion Mikfeld und Andrea Nahles

Benjamin Mikfeld, Mitglied im SPD-Parteivorstand und Andrea Nahles, MdB, Mitglied im SPD-Parteivorstand


1. Die Chance für eine Strukturreform der Arbeitsmarktpolitik nutzen
Die durch die Vermittlungsstatistiken der BA entfachte Debatte über die Arbeitsmarktpolitik bietet die Chance, Fehlsteuerungen und Fehlentwicklungen im Umgang mit der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik aufzuheben. Zu lange wurde Arbeitslosigkeit überwiegend verwaltet und an Symptomen kuriert.

Wir begrüßen den von der Bundesregierung initiierten Zweistufenplan für kunden- und wettbewerbsorientierte Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Kurzfristig werden der Aufbau effizienter Führungsstrukturen, die stärkere Einbeziehung qualitätsgesicherter privater Arbeitsvermittler, Anreizsysteme für Arbeitsvermittler und die Stärkung der Vermittlungsaktivitäten innerhalb der BA einen Beitrag leisten, offene Stellen und Arbeitssuchende stärker in Deckung zu bringen.

Allerdings werden auch eine besser organisierte öffentliche sowie die private Arbeitsvermittlung keine Wunder bewirken können. Erforderlich ist ein begleitender Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz wurden Maßnahmen realisiert, um die präventive und aktive Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik zu stärken. Vor allem die Einführung einer Eingliederungsvereinbarung, die den Arbeitslosen den Rechtsanspruch auf die Einschaltung von privaten Arbeitsvermittlern eröffnet, der generelle Verzicht auf Wartezeiten, die Besserstellung von Frauen während und nach dem Erziehungsurlaub, die geförderte Qualifizierung von Älteren und Geringqualifizierten sowie der neue Ansatz der Job Rotation und die Verzahnung von Infrastruktur- und Arbeitsmarktpolitik stellen wichtige Bausteine dieser Reform dar.

An diesen Maßnahmen gilt es anzuknüpfen. Die SPD hat in ihrem Leitantrag "Sicherheit im Wandel" auf dem Nürnberger Parteitag 2001 beschlossen: "Langfristig werden wir prüfen müssen, ob nicht der Ausbau der Arbeitslosenversicherung zu einer umfassenden Erwerbstätigenversicherung erforderlich ist. Eine solche Erwerbstätigenversicherung müsste nicht nur alle Formen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit umfassen, sondern auch den Versicherten Hilfen zur Erhaltung ihrer dauerhaften Beschäftigungsfähigkeit bereitstellen und die Chancen auf Weiterbildung verbessern". Im Rahmen der zweiten Stufe der von der Bundesregierung vorgesehenen Reform gilt es nun, dieses Vorhaben nicht lang- sondern kurzfristig auf den Weg zu bringen.

Das vorliegende Diskussionspapier greift Anregungen aus der Fachdebatte auf und skizziert einen umfassenden Reformentwurf - den Umbau der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung.

2. Arbeitsmarkt im Wandel

Das Arbeitsförderungsgesetz war im Jahre seiner Inkraftsetzung 1969 die arbeitsmarktpolitische Ergänzung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Damals herrschte faktisch Vollbeschäftigung. Seit dem hat es viele Reformwellen hinter sich. Ohne Zweifel hat die Arbeitsmarktpolitik in den 90ern vor allem in den ostdeutschen und vom Strukturwandel betroffenen alten Bundesländern (West-Berlin, NRW) eine Reihe innovativer Ansätze entwickelt. Jedoch trägt das jetzige SGB III den neuen Realitäten auf dem Arbeitsmarkt noch nicht hinreichend Rechnung.

Der Arbeitsmarkt ist geprägt von einem doppelten Mismatch. Erstens schlagen sich die unterschiedlich verteilten regional-ökonomischen Entwicklungsperspektiven auch in den Arbeitslosenzahlen nieder. Bei der Betrachtung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik muss immer gefragt werden: Welche regionale Ausgangslage ist gemeint? Reden wir von Kreis Coesfeld (NRW - 6,5%), dem Kreis Verden (Niedersachsen - 6,1%), dem Kreis Ebersberg (Bayern - 3,4%)? Oder meinen wir die Stadt Hof (Bayern - 13,9%), die Stadt Gelsenkirchen (NRW - 16,1%), die Stadt Görlitz (Sachsen - 23,7%), den Kreis Uecker-Randow (Meckenburg-Vorpommern - 26,9%)? Gerade in den Krisenregionen in Ost und West haben wir es auch mit einer besonders verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit zu tun.

Zweitens hinkt die berufliche Aus- und Weiterbildung der wirtschaftlichen Innovationsdynamik hinterher. Die Folge ist ein Mangel an qualifizierten Fachkräften, der sich nicht nur in den IT-Branchen zeigt. Bereits jetzt blockieren Stellenbesetzungsprobleme in konjunkturellen Aufschwungphasen den Beschäftigungszuwachs. Ab 2010 führt zudem der demografische Wandel zu einem Mangel an Arbeitskräften. Qualifizierung wird somit zum entscheidenden Ansatz einer integrierten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik.

Der regionale Mismatch kann nicht allein durch Arbeitsmarktpolitik, sondern nur durch eine Fortsetzung einer Politik des Strukturwandels und eine konsequente Ausrichtung der Wirtschaftspolitik des Bundes auf die Förderung neuer Wachstumskerne in den Krisenregionen aufgelöst werden. Mobilitätshilfen, die Anreize für Arbeitslose aus strukturschwachen Regionen bieten, in andere Regionen zu gehen, sind langfristig kontraproduktiv, weil den schwachen Regionen wertvolles "Humankapital" entziehen. Der qualifikatorische Mismatch muss mit einer Qualifizierungsoffensive, v.a. für ältere Erwerbstätige, sowie einer modernen Einwanderungsgesetzgebung beantwortet werden. Die Verbesserung der Qualifikation für ältere Arbeitnehmer ab dem 50. Lebensjahr durch die öffentliche Förderung von Weiterbildung im Job-Aqtiv-Gesetz ist hier ein wichtiger erster Schritt.

Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ist noch immer zu sehr Spiegelbild des Normalarbeitsverhältnisses und der Industriegesellschaft. Der Anteil unbefristeter abhängiger Vollzeitbeschäftigungen mit geregelter Arbeitszeit nimmt jedoch zugunsten atypischer Beschäftigungsformen ab. Diese Entwicklung ist ursächlich neben der politischen Deregulierung des Arbeitsmarktes vor allem auf den steigenden Erwerbswunsch von Frauen und die deutliche Zunahme von Teilzeitarbeit zurückzuführen. Männer arbeiten zu 75%, Frauen nur zu 43% in einem Normalarbeitsverhältnis. Gleichzeitig nimmt die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt in den Wachstumsbereichen der unternehmensbezogenen, distributiven und haushaltsbezogenen Dienstleistungen zu. Gerade in den modernen Dienstleistungsbereichen führen Marktdruck und Projektarbeit zu neuen flexiblen Formen des Arbeitens. Bereits jeder 20. Erwerbstätige ist ein Ein-Personen-Selbstständiger. Wir erleben eine polarisierte Flexibilisierung vom Freelancer in den Wissens-Dienstleistungen bis hin zu einem neuen Tagelöhnertum z.B. bei Botendiensten.

3. Das Prinzip der Arbeitsversicherung

Der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft erfordert eine neue Arbeitsmarktpolitik. Unser Vorschlag lautet, die bisherige Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung umzuwandeln. Sie soll nicht erst dann Leistungen erbringen, wenn der Risikofall (drohende) Erwerbslosigkeit eingetreten ist, sondern die Erwerbstätigen erwerben mit ihren Leistungen individuelle Ansprüche, z. B. an Phasen kürzerer Arbeitszeit oder Qualifizierung, die sie während der Erwerbstätigkeit oder in Übergangsphasen einlösen können. Für Arbeitslose gilt das Prinzip der Aktivierung, d.h. der Re-Integration in den Arbeitsmarkt.

Gleichzeitig geht es auch um eine neue strategische Gestaltungsperspektive. Die deutschen Tarifparteien müssen stärker auf Modelle orientieren, die eine staatlich unterstützte Flankierung von individuellen, betrieblichen und tariflichen Vereinbarungen ermöglichen.

Im Rahmen einer Strukturreform ist es angebracht, die Reparatur- und Umbauarbeiten an der Arbeitsmarktpolitik, durch einen Neubau zu ersetzen. Wir setzen auf das Prinzip der Flexicurity: Erforderlich ist eine Konzeption, die Flexibilisierung zulässt, aber neue Sicherheiten bietet. Vor allem geht es um die Realisierung einer Brückenfunktion an Arbeitsmarkt-Übergängen. Folgende Prinzipien sollen für die Arbeitsversicherung gelten:

Die Arbeitsmarktpolitik bekommt den expliziten Auftrag, am Erreichen des Vollbeschäftigungsziels mitzuwirken.

Ebenso zentral ist das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Um diese zu realisieren, kann die männliche Erwerbsbiografie nicht auf die Frauen übertragen werden. Erforderlich ist eine "Vollbeschäftigungspolitik neuen Typs".

Der Grundsatz des Vorrangs aktiver vor passiven Leistungen und damit der Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit wird konsequent umgesetzt. Die Vielzahl von einzelnen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik soll im Ansatz der Arbeitsversicherung systematisiert, verstetigt und gebündelt werden.

Erwerbstätige können auch ohne akute Bedrohung durch Arbeitslosigkeit Leistungen aus der Arbeitsversicherung in Anspruch nehmen. Die Arbeitsversicherung erhält somit eine lebensbegleitende, aktivierende Funktion. Vor allem sollen für Beschäftigte Wahlmöglichkeiten geschaffen werden.

Die Arbeitsversicherung wird als Erwerbstätigenversicherung ausgestaltet, d.h. auch BeamtInnen und Selbstständige werden mit einbezogen. Damit wird nicht nur dem Solidaritätsgedanken Rechnung getragen, sondern auch die biografische Kontinuität sozialer Sicherung gewährleistet.

Dort wo öffentlich geförderte Beschäftigung notwendig ist, soll diese dauerhaft finanziert und auf die regionalen Wirtschaftsstrukturen ausgerichtet werden.

4. Rahmenbedingungen für eine neue Arbeitsmarktpolitik

Die Bundesanstalt für Arbeit wird ungewandelt in eine "Agentur für Arbeit und Qualifizierung". Die Arbeitsämter werden zu regionalen Servicestellen für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickelt.

Die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik wird so organisiert, dass auf allen Ebenen fiskalische Anreize bestehen, passive Zahlungen durch aktive Leistungen zu ersetzen.

Die globale Zahl der Arbeitslosen ist wenig aussagekräftig. Die Arbeitslosenstatistik muss mehr Aussagen über die unterschiedlichen Formen von Arbeitslosigkeit treffen.

Der in NRW entwickelte Ansatz der Sozialagenturen wird bundesweit umgesetzt. In "Sozialagenturen" wird die Sozialhilfe mit weiteren sozialen Dienstleistungen, wie beispielsweise Wohnungshilfe, Suchtberatung, Schuldnerberatung, Familienberatung oder Kinderbetreuung verbunden werden. Für Personen in schwierigen Lebenssituationen wird somit Hilfe "aus einer Hand" organisiert.
Sozialhilfeempfänger müssen in vollem Umfang Zugang zu den aktiven Leistungen der Arbeitsversicherung bekommen können.

Die Qualifizierungsoffensive muss verzahnt werden mit einer grundlegenden Bildungsreform in Schulen und Hochschulen, die die Grundlage für eine Bewältigung der Herausforderungen der modernen Arbeitsgesellschaft legen müssen.

5. Regelungskreise der Arbeitsversicherung

Die Arbeitsversicherung ist praktische Aktivierungspolitik, in deren Rahmen die folgenden sechs Regelungskreise systematisch aufeinander bezogen werden. Eine Systematisierung soll auch dazu beitragen, das SGB III zu verschlanken, einfacher und verständlicher zu machen sowie den Charakter der neuen regionalen Servicestellen für Arbeit und Qualifizierung als Dienstleistungseinrichtungen zu stärken.

I. Matching und Mobilitätsförderung

Die Fluktuationen auf dem Arbeitsmarkt werden im "flexiblen Kapitalismus" weiter zunehmen. Da nur eine Minderheit der Erwerbstätigen in der Lage ist, dies ohne Hilfe zu bewältigen, müssen flexible Erwerbsarbeit, die Zunahme von Beschäftigungsmobilität, Diskontinuität und Heterogenität sozialstaatlich flankiert werden. Im wesentlichen geht es um das Ziel der Employability, d.h. nicht um den Erhalt eines bestimmten Arbeitsplatzes, sondern um die Sicherstellung von Beschäftigungsfähigkeit. Neue Sicherheitsgarantien können in einem solchen Konzept überhaupt erst die Voraussetzung für mehr Flexibilitätsbereitschaft bzw. die Entfaltung des "Produktionsfaktors Risiko" schaffen. Der Arbeitsmarktpolitik kommt die Aufgabe zu, die Übergänge zwischen einer Beschäftigung und einer folgenden Beschäftigung abzusichern. Hierzu gehören:

Profiling und Entwicklung von für beide Seiten verbindlichen Eingliederungsvereinbarungen.

Für Arbeitslose soll der Eingliederungsplan, der seit 1.1.2002 verpflichtend erstellt werden muss, zu einem Rechtsanspruch auf arbeitsmarktpolitische Integration auf Basis eines individuellen Förderplans weiterentwickelt werden.

Verbesserung und Ausweitung der Vermittlungstätigkeiten der Arbeitsämter

Einrichtung von öffentlichen oder privaten und zertifizierten Arbeitskraftagenturen, um den flexiblen Personalbedarf von KMU abzusichern

II. Qualifizierung und lebensbegleitendes Lernen

Für erfolgreiche und durchgängige Erwerbsbiografie wird lebensbegleitendes Lernen immer wichtiger. Ebenso ist Qualifizierung die wichtigste Aktivierungsmaßnahme für Arbeitssuchende und von Arbeitslosigkeit bedrohte Erwerbstätige. Allerdings bleibt dies ein Lippenbekenntnis, wenn nicht neue Finanzierungsstrukturen geschaffen werden. Gegenwärtig wirkt die von Unternehmen ausgehende Qualifizierung stark selektiv; begünstigt werden vor allem Höherqualifizierte und Kernbelegschaften. Zu geringe Weiterbildungsaktivitäten sind vor allem in den KMU zu verzeichnen. In dem Maße, wie Erwerbsbiografien flexibler werden, kann zudem immer weniger darauf gesetzt werden, dass Weiterbildung v.a. von den Betrieben organisiert und finanziert wird, da sich diese Investition für sie nur bei langfristig im Unternehmen verbleibenden Beschäftigten rentiert. Vieles spricht dafür, einen Finanzierungsmix zu entwickeln, der von Staat, Arbeitgebern und Arbeitnehmern (bzw. Selbstständigen) getragen wird. Denkbar ist die Bereitstellung von Qualifizierungsgutscheinen oder die Einrichtung von individuellen Lernzeit-Konten, die durch gesetzliche Weiterbildungsansprüche (v.a. durch die Weiterbildungsgesetze der Länder), betriebliche und tarifliche Regelungen, Zeitelemente aus Arbeitszeitkonten und weiterbildungsorientierten Arbeitszeitverkürzungen gefüllt werden. Geprüft werden muss, inwieweit die Aus- und Weiterbildungslandschaft zu zertifizierten dezentralen Weiterbildungszentren umgebaut werden kann, um eine flächendeckend qualitativ anspruchsvolle Weiterbildung ermöglichen.

III. Atmende Arbeitszeitgestaltung

Die Arbeitsmarktpolitik muss stärker auch die Aufgabe einer "arbeitsmarktpolitischen Angebotssteuerung" übernehmen, d.h. sie muss volkswirtschaftliches und betriebliches "Atmen" des Arbeitseinsatzes je nach konjunktureller, saisonaler und betrieblicher Lage abfedern und so Entlassungen verhindern. Erforderlich ist ein arbeitszeitpolitischer Deal, der die differenzierten Wünsche der Arbeitnehmer nach flexiblen und z.T. kürzeren Arbeitszeiten, die Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen und den Grundsatz, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, zusammenbringt. Einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik kommt auch die Aufgabe zu, Anreize und Rahmenbedingungen für die intelligente Kombination von gesetzlichen Maßnahmen, tariflicher Politik, betrieblichen Vereinbarungen und einer arbeitsmarktpolitischen Förderung von Arbeitszeitverkürzungen zu leisten. Eine öffentliche Flankierung ist vor allem angebracht bei "zweckgebundenen Arbeitszeitverkürzungen", deren Inanspruchnahme an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, wie z.B. die Erziehung von Kindern, die Pflege von bedürftigen Menschen sowie die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen. In Verbindung mit dem Regelungskreis Qualifizierung könnte ein "Fonds für Qualifizierung und Arbeit" auf Basis des Job Rotation-Modells kurzfristig einen erheblichen Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes leisten.

IV. Strukturförderung

Vor allem in strukturschwachen Regionen wird es dauerhafte Formen der Förderung von zusätzlicher Arbeit geben müssen. Der so genannte Zweite Arbeitsmarkt war immer als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt konzipiert. Längst hat sich angesichts der Massenarbeitslosigkeit ein chaotischer öffentlich geförderter Beschäftigungssektor herausgebildet. Das SGB III sieht v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (§ 260ff.) und Strukturanpassungsmaßnahmen (§ 272ff.) vor. Zum Teil werden auch die Mittel für Sozialplanmaßnahmen (§ 254 ff.) im Rahmen von Beschäftigungsgesellschaften oder die Freie Förderung (§ 10) von den Arbeitsämtern für solche Zwecke genutzt. Weitere Ansätze von EU, Ländern und Kommunen sehen beispielsweise die Förderung von Dienstleistungspools, Sozialen (Wirtschafts-)Betrieben bzw. Arbeitsförderbetrieben oder "Arbeit statt Sozialhilfe" vor. Was jedoch fehlt, ist die Bereitschaft, den chaotischen Zweiten Arbeitsmarkt im Rahmen eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors auf eine neue Grundlage zu stellen, in den sich der bunte Mix an regionalen Projekten einfügen kann. Auch die bundesweite Übernahme des Mainzer Kombilohn-Modells stellt eine Fortsetzung dieses Stückwerks dar. Der Ansatz der "Beschäftigungsschaffenden Infrastrukturförderung" im Job-Aqtiv-Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ein wichtiges Element der Arbeitversicherung wäre eine dauerhafte projektfinanzierte Lösung zur Ko-Finanzierung von Dienstleistungen der Lokalökonomie in strukturschwachen Regionen.

V. Förderung von Existenzgründungen

Angesichts der Zunahme Neuer Selbstständigkeit und des häufigeren Wechsels zwischen abhängigen und selbstständigen Erwerbsformen erweist sich die Trennung zwischen Arbeitsförderung auf der einen und der Existenzgründungsförderung auf der anderen Seite als Problem. Der Arbeitsförderung kommt zunehmend die Aufgabe zu, ihre Leistungen auch auf die Unterstützung von Existenzgründungen auszurichten. Da etwa jeder fünfte Existenzgründer zuvor arbeitslos war, handelt es sich hier um eine wichtige Aufgabe aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Ergänzend zu der klassischen auf Finanztransfers ausgerichteten Existenzgründungspolitik muss die Arbeitsmarktpolitik eine hinreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal unterstützen. Mögliche Ansätze sind die Gewährung von nicht auf bestimmte Arbeitslose beschränkte Lohnkostenzuschüsse für die ersten zwei Jahre, die Kombination von Teilzeit-Beschäftigung und Teilzeit-Arbeitslosengeld, die Unterstützung auch der Übernahme von Altbetrieben, die Ausweitung der Gründer-Qualifizierung auf mithelfende Familienangehörige und Beschäftigte sowie die Einrichtung von integrierten Beratungsstellen der Arbeitsverwaltung und der Wirtschaftsförderung. Wesentliche Schnittstellen zu den anderen hier benannten Regelungskreisen sind die Einbeziehung von Existenzgründern in die gesetzlichen Sozialversicherungen und der Aufbau von öffentlichen Arbeitskräftepools zur Unterstützung des flexiblen Personalbedarfs von jungen Unternehmen.

VI. Absicherung in verschiedenen Erwerbsformen und Lebenslagen

Die Entstandardisierung von Erwerbsformen, Lebensverläufen und Lebensformen hat zur Folge, dass wachsende Teile keine oder nur unzureichende Ansprüche an die Sozialversicherungen haben. Daher soll die Arbeitsversicherung als Erwerbstätigenversicherung ausgestaltet werden, d.h. alle Erwerbstätigen werden einbezogen. Für die "Neuen Selbstständigen" ist ein an die Künstersozialversicherung angelehntes Finanzierungsmodell zu entwickeln. An die Stelle der Arbeitgeberbeiträge tritt für diese Erwerbstätigen ein Fonds, in den die auftraggebenden Unternehmen einzahlen.

6. Leitbild: Selbstbestimmtes Normalarbeitsverhältnis - Absicherung von N.E.W- Phasen

Unser Leitbild ist das selbstbestimmte Normalarbeitsverhältnis. Es bedeutet eine Abkehr vom männlich geprägten Normalarbeitsverhältnis der Nachkriegszeit und ermöglicht eine lebensphasenabhängige Ausgestaltung der Erwerbsarbeit. Das neue Teilzeitgesetz der Bundesregierung ist ein vernünftiger Schritt in diese Richtung. Gleiches gilt für die Regelung im Rahmen des Job-Aqtiv-Gesetzes, die vorsieht, dass drei Jahre Elternzeit/Erziehungsurlaub sozialversichert somit in den Schutz der Arbeitslosenversicherung einbezogen werden. Dennoch bleiben Erwerbs,- Erziehungs,- und Weiterbildungsphasen immer noch schematisch getrennt und verfügen Frauen bzw. Männer, die in Erwerbsunterbrechungen vornehmen, über keinen gesicherten Lebensunterhalt.

Je nach Lebenslage müssen selbstgewählte Formen der Arbeit möglich sein. Für Paare könnten sich z.B. die Leitbilder 2 Dreivierteljobs oder 2 Vollzeitstellen mit variablen Auszeiten durchsetzen.

Der Ansatz der Arbeitsversicherung hilft, N.E.W.-Phasen im Rahmen einer Arbeitsbiografie abzusichern. N.E.W. steht für
- Nicht-Erwerbstätigkeit (Sabbatical, Vorbereitung einer Existenzgründung, etc.)
- Erziehung
- Weiterbildung

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