Qualifizierung
und Beschäftigung:
Umbau der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung
Diskussionspapier
zur Parteivorstandssitzung am 4. März 2002
Von
Benjamion Mikfeld und Andrea Nahles
Benjamin Mikfeld, Mitglied im SPD-Parteivorstand und Andrea Nahles, MdB,
Mitglied im SPD-Parteivorstand
1. Die Chance für eine Strukturreform der Arbeitsmarktpolitik
nutzen
Die durch die Vermittlungsstatistiken der BA entfachte Debatte über
die Arbeitsmarktpolitik bietet die Chance, Fehlsteuerungen und Fehlentwicklungen
im Umgang mit der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik aufzuheben. Zu
lange wurde Arbeitslosigkeit überwiegend verwaltet und an Symptomen
kuriert.
Wir begrüßen den von der Bundesregierung initiierten Zweistufenplan
für kunden- und wettbewerbsorientierte Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.
Kurzfristig werden der Aufbau effizienter Führungsstrukturen,
die stärkere Einbeziehung qualitätsgesicherter privater Arbeitsvermittler,
Anreizsysteme für Arbeitsvermittler und die Stärkung der Vermittlungsaktivitäten
innerhalb der BA einen Beitrag leisten, offene Stellen und Arbeitssuchende
stärker in Deckung zu bringen.
Allerdings werden auch eine besser organisierte öffentliche sowie
die private Arbeitsvermittlung keine Wunder bewirken können. Erforderlich
ist ein begleitender Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Mit
dem Job-Aqtiv-Gesetz wurden Maßnahmen realisiert,
um die präventive und aktive Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik
zu stärken. Vor allem die Einführung einer Eingliederungsvereinbarung,
die den Arbeitslosen den Rechtsanspruch auf die Einschaltung von privaten
Arbeitsvermittlern eröffnet, der generelle Verzicht auf Wartezeiten,
die Besserstellung von Frauen während und nach dem Erziehungsurlaub,
die geförderte Qualifizierung von Älteren und Geringqualifizierten
sowie der neue Ansatz der Job Rotation und die Verzahnung von Infrastruktur-
und Arbeitsmarktpolitik stellen wichtige Bausteine dieser Reform dar.
An diesen Maßnahmen gilt es anzuknüpfen. Die SPD hat in ihrem
Leitantrag "Sicherheit im Wandel" auf dem Nürnberger Parteitag
2001 beschlossen: "Langfristig werden wir prüfen müssen,
ob nicht der Ausbau der Arbeitslosenversicherung zu einer umfassenden
Erwerbstätigenversicherung erforderlich ist. Eine solche Erwerbstätigenversicherung
müsste nicht nur alle Formen selbständiger und unselbständiger
Erwerbstätigkeit umfassen, sondern auch den Versicherten Hilfen zur
Erhaltung ihrer dauerhaften Beschäftigungsfähigkeit bereitstellen
und die Chancen auf Weiterbildung verbessern". Im Rahmen der zweiten
Stufe der von der Bundesregierung vorgesehenen Reform gilt es
nun, dieses Vorhaben nicht lang- sondern kurzfristig auf den Weg zu bringen.
Das vorliegende Diskussionspapier greift Anregungen aus der Fachdebatte
auf und skizziert einen umfassenden Reformentwurf - den Umbau der Arbeitslosenversicherung
zur Arbeitsversicherung.
2. Arbeitsmarkt im Wandel
Das Arbeitsförderungsgesetz war im Jahre seiner Inkraftsetzung
1969 die arbeitsmarktpolitische Ergänzung zum Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz. Damals herrschte faktisch Vollbeschäftigung. Seit
dem hat es viele Reformwellen hinter sich. Ohne Zweifel hat die Arbeitsmarktpolitik
in den 90ern vor allem in den ostdeutschen und vom Strukturwandel betroffenen
alten Bundesländern (West-Berlin, NRW) eine Reihe innovativer Ansätze
entwickelt. Jedoch trägt das jetzige SGB III den neuen Realitäten
auf dem Arbeitsmarkt noch nicht hinreichend Rechnung.
Der Arbeitsmarkt ist geprägt von einem doppelten Mismatch. Erstens
schlagen sich die unterschiedlich verteilten regional-ökonomischen
Entwicklungsperspektiven auch in den Arbeitslosenzahlen nieder. Bei der
Betrachtung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik muss immer gefragt
werden: Welche regionale Ausgangslage ist gemeint? Reden
wir von Kreis Coesfeld (NRW - 6,5%), dem Kreis Verden (Niedersachsen -
6,1%), dem Kreis Ebersberg (Bayern - 3,4%)? Oder meinen wir die Stadt
Hof (Bayern - 13,9%), die Stadt Gelsenkirchen (NRW - 16,1%), die Stadt
Görlitz (Sachsen - 23,7%), den Kreis Uecker-Randow (Meckenburg-Vorpommern
- 26,9%)? Gerade in den Krisenregionen in Ost und West haben wir es auch
mit einer besonders verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit
zu tun.
Zweitens hinkt die berufliche Aus- und Weiterbildung der wirtschaftlichen
Innovationsdynamik hinterher. Die Folge ist ein Mangel an qualifizierten
Fachkräften, der sich nicht nur in den IT-Branchen zeigt.
Bereits jetzt blockieren Stellenbesetzungsprobleme in konjunkturellen
Aufschwungphasen den Beschäftigungszuwachs. Ab 2010 führt zudem
der demografische Wandel zu einem Mangel an Arbeitskräften. Qualifizierung
wird somit zum entscheidenden Ansatz einer integrierten Arbeitsmarkt-
und Wirtschaftspolitik.
Der regionale Mismatch kann nicht allein durch Arbeitsmarktpolitik,
sondern nur durch eine Fortsetzung einer Politik des Strukturwandels und
eine konsequente Ausrichtung der Wirtschaftspolitik des Bundes auf
die Förderung neuer Wachstumskerne in den Krisenregionen aufgelöst
werden. Mobilitätshilfen, die Anreize für Arbeitslose aus strukturschwachen
Regionen bieten, in andere Regionen zu gehen, sind langfristig kontraproduktiv,
weil den schwachen Regionen wertvolles "Humankapital" entziehen.
Der qualifikatorische Mismatch muss mit einer Qualifizierungsoffensive,
v.a. für ältere Erwerbstätige, sowie einer modernen
Einwanderungsgesetzgebung beantwortet werden. Die Verbesserung
der Qualifikation für ältere Arbeitnehmer ab dem 50. Lebensjahr
durch die öffentliche Förderung von Weiterbildung im Job-Aqtiv-Gesetz
ist hier ein wichtiger erster Schritt.
Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ist noch immer zu sehr Spiegelbild
des Normalarbeitsverhältnisses und der Industriegesellschaft.
Der Anteil unbefristeter abhängiger Vollzeitbeschäftigungen
mit geregelter Arbeitszeit nimmt jedoch zugunsten atypischer Beschäftigungsformen
ab. Diese Entwicklung ist ursächlich neben der politischen Deregulierung
des Arbeitsmarktes vor allem auf den steigenden Erwerbswunsch von Frauen
und die deutliche Zunahme von Teilzeitarbeit zurückzuführen.
Männer arbeiten zu 75%, Frauen nur zu 43% in einem Normalarbeitsverhältnis.
Gleichzeitig nimmt die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt
in den Wachstumsbereichen der unternehmensbezogenen, distributiven und
haushaltsbezogenen Dienstleistungen zu. Gerade in den modernen Dienstleistungsbereichen
führen Marktdruck und Projektarbeit zu neuen flexiblen Formen des
Arbeitens. Bereits jeder 20. Erwerbstätige ist ein Ein-Personen-Selbstständiger.
Wir erleben eine polarisierte Flexibilisierung vom Freelancer
in den Wissens-Dienstleistungen bis hin zu einem neuen Tagelöhnertum
z.B. bei Botendiensten.
3. Das Prinzip der Arbeitsversicherung
Der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft erfordert eine neue Arbeitsmarktpolitik.
Unser Vorschlag lautet, die bisherige Arbeitslosenversicherung in eine
Arbeitsversicherung umzuwandeln. Sie soll nicht erst dann
Leistungen erbringen, wenn der Risikofall (drohende) Erwerbslosigkeit
eingetreten ist, sondern die Erwerbstätigen erwerben mit ihren Leistungen
individuelle Ansprüche, z. B. an Phasen kürzerer Arbeitszeit
oder Qualifizierung, die sie während der Erwerbstätigkeit
oder in Übergangsphasen einlösen können. Für
Arbeitslose gilt das Prinzip der Aktivierung, d.h. der Re-Integration
in den Arbeitsmarkt.
Gleichzeitig geht es auch um eine neue strategische Gestaltungsperspektive.
Die deutschen Tarifparteien müssen stärker auf Modelle orientieren,
die eine staatlich unterstützte Flankierung von individuellen, betrieblichen
und tariflichen Vereinbarungen ermöglichen.
Im Rahmen einer Strukturreform ist es angebracht, die Reparatur- und Umbauarbeiten
an der Arbeitsmarktpolitik, durch einen Neubau zu ersetzen. Wir setzen
auf das Prinzip der Flexicurity: Erforderlich ist eine Konzeption,
die Flexibilisierung zulässt, aber neue Sicherheiten bietet. Vor
allem geht es um die Realisierung einer Brückenfunktion an
Arbeitsmarkt-Übergängen. Folgende Prinzipien sollen
für die Arbeitsversicherung gelten:
Die Arbeitsmarktpolitik bekommt den expliziten Auftrag, am Erreichen des
Vollbeschäftigungsziels mitzuwirken.
Ebenso zentral ist das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter
und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Um diese zu
realisieren, kann die männliche Erwerbsbiografie nicht auf die Frauen
übertragen werden. Erforderlich ist eine "Vollbeschäftigungspolitik
neuen Typs".
Der Grundsatz des Vorrangs aktiver vor passiven Leistungen
und damit der Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit wird
konsequent umgesetzt. Die Vielzahl von einzelnen Maßnahmen der aktiven
Arbeitsmarktpolitik soll im Ansatz der Arbeitsversicherung systematisiert,
verstetigt und gebündelt werden.
Erwerbstätige können auch ohne akute Bedrohung durch Arbeitslosigkeit
Leistungen aus der Arbeitsversicherung in Anspruch nehmen. Die Arbeitsversicherung
erhält somit eine lebensbegleitende, aktivierende Funktion.
Vor allem sollen für Beschäftigte Wahlmöglichkeiten
geschaffen werden.
Die Arbeitsversicherung wird als Erwerbstätigenversicherung
ausgestaltet, d.h. auch BeamtInnen und Selbstständige werden mit
einbezogen. Damit wird nicht nur dem Solidaritätsgedanken Rechnung
getragen, sondern auch die biografische Kontinuität sozialer Sicherung
gewährleistet.
Dort wo öffentlich geförderte Beschäftigung notwendig
ist, soll diese dauerhaft finanziert und auf die regionalen Wirtschaftsstrukturen
ausgerichtet werden.
4. Rahmenbedingungen für eine neue Arbeitsmarktpolitik
Die Bundesanstalt für Arbeit wird ungewandelt in eine "Agentur
für Arbeit und Qualifizierung". Die Arbeitsämter
werden zu regionalen Servicestellen für Arbeit und Qualifizierung
weiterentwickelt.
Die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik wird so organisiert,
dass auf allen Ebenen fiskalische Anreize bestehen, passive Zahlungen
durch aktive Leistungen zu ersetzen.
Die globale Zahl der Arbeitslosen ist wenig aussagekräftig. Die Arbeitslosenstatistik
muss mehr Aussagen über die unterschiedlichen Formen von Arbeitslosigkeit
treffen.
Der in NRW entwickelte Ansatz der Sozialagenturen wird bundesweit
umgesetzt. In "Sozialagenturen" wird die Sozialhilfe mit weiteren
sozialen Dienstleistungen, wie beispielsweise Wohnungshilfe, Suchtberatung,
Schuldnerberatung, Familienberatung oder Kinderbetreuung verbunden werden.
Für Personen in schwierigen Lebenssituationen wird somit Hilfe "aus
einer Hand" organisiert.
Sozialhilfeempfänger müssen in vollem Umfang Zugang zu
den aktiven Leistungen der Arbeitsversicherung bekommen können.
Die Qualifizierungsoffensive muss verzahnt werden mit einer grundlegenden
Bildungsreform in Schulen und Hochschulen, die die Grundlage für
eine Bewältigung der Herausforderungen der modernen Arbeitsgesellschaft
legen müssen.
5. Regelungskreise der Arbeitsversicherung
Die Arbeitsversicherung ist praktische Aktivierungspolitik, in deren Rahmen
die folgenden sechs Regelungskreise systematisch aufeinander bezogen werden.
Eine Systematisierung soll auch dazu beitragen, das SGB III zu verschlanken,
einfacher und verständlicher zu machen sowie den Charakter
der neuen regionalen Servicestellen für Arbeit und Qualifizierung
als Dienstleistungseinrichtungen zu stärken.
I. Matching und Mobilitätsförderung
Die Fluktuationen auf dem Arbeitsmarkt werden im "flexiblen Kapitalismus"
weiter zunehmen. Da nur eine Minderheit der Erwerbstätigen in der
Lage ist, dies ohne Hilfe zu bewältigen, müssen flexible Erwerbsarbeit,
die Zunahme von Beschäftigungsmobilität, Diskontinuität
und Heterogenität sozialstaatlich flankiert werden. Im wesentlichen
geht es um das Ziel der Employability, d.h. nicht um den
Erhalt eines bestimmten Arbeitsplatzes, sondern um die Sicherstellung
von Beschäftigungsfähigkeit. Neue Sicherheitsgarantien können
in einem solchen Konzept überhaupt erst die Voraussetzung für
mehr Flexibilitätsbereitschaft bzw. die Entfaltung des "Produktionsfaktors
Risiko" schaffen. Der Arbeitsmarktpolitik kommt die Aufgabe zu, die
Übergänge zwischen einer Beschäftigung und einer
folgenden Beschäftigung abzusichern. Hierzu gehören:
Profiling und Entwicklung von für beide Seiten verbindlichen Eingliederungsvereinbarungen.
Für Arbeitslose soll der Eingliederungsplan, der seit 1.1.2002 verpflichtend
erstellt werden muss, zu einem Rechtsanspruch auf arbeitsmarktpolitische
Integration auf Basis eines individuellen Förderplans weiterentwickelt
werden.
Verbesserung und Ausweitung der Vermittlungstätigkeiten der Arbeitsämter
Einrichtung von öffentlichen oder privaten und zertifizierten Arbeitskraftagenturen,
um den flexiblen Personalbedarf von KMU abzusichern
II. Qualifizierung und lebensbegleitendes Lernen
Für erfolgreiche und durchgängige Erwerbsbiografie wird
lebensbegleitendes Lernen immer wichtiger. Ebenso ist Qualifizierung die
wichtigste Aktivierungsmaßnahme für Arbeitssuchende und von
Arbeitslosigkeit bedrohte Erwerbstätige. Allerdings bleibt dies ein
Lippenbekenntnis, wenn nicht neue Finanzierungsstrukturen geschaffen werden.
Gegenwärtig wirkt die von Unternehmen ausgehende Qualifizierung stark
selektiv; begünstigt werden vor allem Höherqualifizierte und
Kernbelegschaften. Zu geringe Weiterbildungsaktivitäten sind vor
allem in den KMU zu verzeichnen. In dem Maße, wie Erwerbsbiografien
flexibler werden, kann zudem immer weniger darauf gesetzt werden, dass
Weiterbildung v.a. von den Betrieben organisiert und finanziert wird,
da sich diese Investition für sie nur bei langfristig im Unternehmen
verbleibenden Beschäftigten rentiert. Vieles spricht dafür,
einen Finanzierungsmix zu entwickeln, der von Staat, Arbeitgebern
und Arbeitnehmern (bzw. Selbstständigen) getragen wird. Denkbar ist
die Bereitstellung von Qualifizierungsgutscheinen oder die
Einrichtung von individuellen Lernzeit-Konten, die durch
gesetzliche Weiterbildungsansprüche (v.a. durch die Weiterbildungsgesetze
der Länder), betriebliche und tarifliche Regelungen, Zeitelemente
aus Arbeitszeitkonten und weiterbildungsorientierten Arbeitszeitverkürzungen
gefüllt werden. Geprüft werden muss, inwieweit die Aus- und
Weiterbildungslandschaft zu zertifizierten dezentralen Weiterbildungszentren
umgebaut werden kann, um eine flächendeckend qualitativ anspruchsvolle
Weiterbildung ermöglichen.
III. Atmende Arbeitszeitgestaltung
Die Arbeitsmarktpolitik muss stärker auch die Aufgabe einer "arbeitsmarktpolitischen
Angebotssteuerung" übernehmen, d.h. sie muss volkswirtschaftliches
und betriebliches "Atmen" des Arbeitseinsatzes je nach konjunktureller,
saisonaler und betrieblicher Lage abfedern und so Entlassungen verhindern.
Erforderlich ist ein arbeitszeitpolitischer Deal, der die
differenzierten Wünsche der Arbeitnehmer nach flexiblen und z.T.
kürzeren Arbeitszeiten, die Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen
und den Grundsatz, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, zusammenbringt.
Einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik kommt auch die Aufgabe zu, Anreize
und Rahmenbedingungen für die intelligente Kombination von gesetzlichen
Maßnahmen, tariflicher Politik, betrieblichen Vereinbarungen und
einer arbeitsmarktpolitischen Förderung von Arbeitszeitverkürzungen
zu leisten. Eine öffentliche Flankierung ist vor allem angebracht
bei "zweckgebundenen Arbeitszeitverkürzungen", deren Inanspruchnahme
an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, wie z.B. die Erziehung von
Kindern, die Pflege von bedürftigen Menschen sowie die Teilnahme
an Weiterbildungsmaßnahmen. In Verbindung mit dem Regelungskreis
Qualifizierung könnte ein "Fonds für Qualifizierung
und Arbeit" auf Basis des Job Rotation-Modells kurzfristig
einen erheblichen Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes leisten.
IV. Strukturförderung
Vor allem in strukturschwachen Regionen wird es dauerhafte Formen
der Förderung von zusätzlicher Arbeit geben müssen. Der
so genannte Zweite Arbeitsmarkt war immer als Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt konzipiert. Längst hat sich angesichts der Massenarbeitslosigkeit
ein chaotischer öffentlich geförderter Beschäftigungssektor
herausgebildet. Das SGB III sieht v.a. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
(§ 260ff.) und Strukturanpassungsmaßnahmen (§ 272ff.)
vor. Zum Teil werden auch die Mittel für Sozialplanmaßnahmen
(§ 254 ff.) im Rahmen von Beschäftigungsgesellschaften
oder die Freie Förderung (§ 10) von den Arbeitsämtern
für solche Zwecke genutzt. Weitere Ansätze von EU, Ländern
und Kommunen sehen beispielsweise die Förderung von Dienstleistungspools,
Sozialen (Wirtschafts-)Betrieben bzw. Arbeitsförderbetrieben oder
"Arbeit statt Sozialhilfe" vor. Was jedoch fehlt, ist die Bereitschaft,
den chaotischen Zweiten Arbeitsmarkt im Rahmen eines öffentlich
geförderten Beschäftigungssektors auf eine neue Grundlage
zu stellen, in den sich der bunte Mix an regionalen Projekten einfügen
kann. Auch die bundesweite Übernahme des Mainzer Kombilohn-Modells
stellt eine Fortsetzung dieses Stückwerks dar. Der Ansatz der "Beschäftigungsschaffenden
Infrastrukturförderung" im Job-Aqtiv-Gesetz ist ein Schritt
in die richtige Richtung. Ein wichtiges Element der Arbeitversicherung
wäre eine dauerhafte projektfinanzierte Lösung zur Ko-Finanzierung
von Dienstleistungen der Lokalökonomie in strukturschwachen
Regionen.
V. Förderung von Existenzgründungen
Angesichts der Zunahme Neuer Selbstständigkeit und des häufigeren
Wechsels zwischen abhängigen und selbstständigen Erwerbsformen
erweist sich die Trennung zwischen Arbeitsförderung auf der einen
und der Existenzgründungsförderung auf der anderen Seite als
Problem. Der Arbeitsförderung kommt zunehmend die Aufgabe zu, ihre
Leistungen auch auf die Unterstützung von Existenzgründungen
auszurichten. Da etwa jeder fünfte Existenzgründer zuvor arbeitslos
war, handelt es sich hier um eine wichtige Aufgabe aktivierender Arbeitsmarktpolitik.
Ergänzend zu der klassischen auf Finanztransfers ausgerichteten Existenzgründungspolitik
muss die Arbeitsmarktpolitik eine hinreichende Ausstattung mit qualifiziertem
Personal unterstützen. Mögliche Ansätze sind die Gewährung
von nicht auf bestimmte Arbeitslose beschränkte Lohnkostenzuschüsse
für die ersten zwei Jahre, die Kombination von Teilzeit-Beschäftigung
und Teilzeit-Arbeitslosengeld, die Unterstützung auch der
Übernahme von Altbetrieben, die Ausweitung der Gründer-Qualifizierung
auf mithelfende Familienangehörige und Beschäftigte sowie die
Einrichtung von integrierten Beratungsstellen der Arbeitsverwaltung
und der Wirtschaftsförderung. Wesentliche Schnittstellen zu den anderen
hier benannten Regelungskreisen sind die Einbeziehung von Existenzgründern
in die gesetzlichen Sozialversicherungen und der Aufbau von öffentlichen
Arbeitskräftepools zur Unterstützung des flexiblen Personalbedarfs
von jungen Unternehmen.
VI. Absicherung in verschiedenen Erwerbsformen und Lebenslagen
Die Entstandardisierung von Erwerbsformen, Lebensverläufen und
Lebensformen hat zur Folge, dass wachsende Teile keine oder nur unzureichende
Ansprüche an die Sozialversicherungen haben. Daher soll die Arbeitsversicherung
als Erwerbstätigenversicherung ausgestaltet werden,
d.h. alle Erwerbstätigen werden einbezogen. Für die "Neuen
Selbstständigen" ist ein an die Künstersozialversicherung
angelehntes Finanzierungsmodell zu entwickeln. An die Stelle der Arbeitgeberbeiträge
tritt für diese Erwerbstätigen ein Fonds, in den die auftraggebenden
Unternehmen einzahlen.
6. Leitbild: Selbstbestimmtes Normalarbeitsverhältnis - Absicherung
von N.E.W- Phasen
Unser Leitbild ist das selbstbestimmte Normalarbeitsverhältnis.
Es bedeutet eine Abkehr vom männlich geprägten Normalarbeitsverhältnis
der Nachkriegszeit und ermöglicht eine lebensphasenabhängige
Ausgestaltung der Erwerbsarbeit. Das neue Teilzeitgesetz der Bundesregierung
ist ein vernünftiger Schritt in diese Richtung. Gleiches gilt für
die Regelung im Rahmen des Job-Aqtiv-Gesetzes, die vorsieht, dass drei
Jahre Elternzeit/Erziehungsurlaub sozialversichert somit in den Schutz
der Arbeitslosenversicherung einbezogen werden. Dennoch bleiben Erwerbs,-
Erziehungs,- und Weiterbildungsphasen immer noch schematisch getrennt
und verfügen Frauen bzw. Männer, die in Erwerbsunterbrechungen
vornehmen, über keinen gesicherten Lebensunterhalt.
Je nach Lebenslage müssen selbstgewählte Formen der Arbeit möglich
sein. Für Paare könnten sich z.B. die Leitbilder 2 Dreivierteljobs
oder 2 Vollzeitstellen mit variablen Auszeiten durchsetzen.
Der Ansatz der Arbeitsversicherung hilft, N.E.W.-Phasen
im Rahmen einer Arbeitsbiografie abzusichern. N.E.W. steht für
- Nicht-Erwerbstätigkeit (Sabbatical, Vorbereitung einer Existenzgründung,
etc.)
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