Alltägliche Lebensführung und Politik
Alternativen zur Politik des "Ich-und-Jetzt Populismus"
von Reinhold Rünker
Reinhold Rünker ist Mitglied der spw-Redaktion und
lebt in Leichlingen. Der Text bezieht sich an einigen Stellen auf ein
Thesenpapier von Thomas Westphal, das im Vorfeld der spw-Tagung vom 07.12.2002
entstanden ist.
Warum haben die Menschen am 22.09.2002 erneut SPD und Bündnis 90/Die
Grünen den Vorrang gegeben haben und nicht der Alternative aus CDU/CSU
und FDP, wäre als einzige Frage für die spw-Tagung zu kurz gegriffen:
Vielmehr stand im Raum, ob dieses Wahlergebnis eben nicht "zufällig"
und durch die äußeren Umstände begünstigt (Oderflut,
Kriegsgefahr) zustande kam.
Spiegelte sich im Wahlergebnis nicht auch ein sozi-struktureller Wandel
wider, der von den politischen Strategen unzureichend analysiert wurde?
Vom Ende der Politik der "Neuen Mitte"?
Die Wahlkampfplaner des Rot-Grünen Wahlerfolges von 1998 waren davon
ausgegangen, dass ihre Politik auf eine soziale Leit-Gruppe orientieren
müsse, die jenseits der traditionellen WählerInnenmilieus die
entscheidenden zusätzlichen Wählerstimmen einbringen würden.
Diese "Leitgruppe" sollte als aufstrebende, technische Intelligenz
(qualifizierte Facharbeiter, Angestellte, neue Selbstständige, etc.)
den Gegensatz zwischen traditionellen Arbeitnehmern auf der einen sowie
dem liberalen Bürgertum auf der anderen Seite in sich auflösen.
Demzufolge verband Schröder in seiner Politik die Akzeptanz des neoliberalen
Umbauprojekts (Vorherrschaft der Finanzmärkte, Globalisierung, Sozialstaatskritik,
etc.) mit der gleichzeitigen Aussicht, dass bei den einzuleitenden "Reformen"
diese neue Zielgruppe zu den Gewinnern gehören würde.
Um das traditionelle Stammklientel zu halten, durfte Lafontaine den Globalisierungskritiker
und Verfechter der an Keynes orientierten Nachfragepolitik geben, wobei
das Absurde darin weniger im Rücktritt Lafontaines im Frühjahr
1999 lag, als darin, dass es doch gerade Lafontaine war, der sich seit
den 1980er Jahren immer wieder in der Rolle des Sozialstaats- und Gewerkschaftskritikers
gefiel. (Dessen Wiederkehr als Wahlkampfhelfer und Förderer sozialdemokratischen
Nachwuchses im Saarland kann fast nur noch als Farce gelten).
Nachdem Lafontaine zunächst - entschlossener als von manchen in der
Partei angenommen - die sozialstaatlich und nachfrageorientierte Klientel
zu bedienen suchte, um auf einem Viertel des Weges die Flucht in das Rentnerdasein
anzutreten, gerieten die Folgejahre mehr oder wenig zu Rückzugsgefechten:
Die Gesetze zur Scheinselbstständigkeit und zur geringfügigen
Beschäftigung wurden eiligst nachgebessert, Hans Eichel übernahm
als Eiserner Hans das Mantra vom Sparen, Schröder bediente die Interessen
der Großkonzerne (Stichworte: Körperschaftssteuer, Altautoverordnung,
etc.). Mit der Riester-Rente wurde der Stammklientel deutlich gemacht,
dass sie auf ihre Rentenbeiträge fürs Altenteil nicht mehr zu
rechnen brauchen, während die "Gutsituierten" den steuerlichen
Anreiz zur weiteren Vermögensbildung nicht benötigten. Die Aufhebung
der Parität in der Sozialversicherung verärgerte also die Stammwähler,
ohne dass sie auf anderer Seite Zustimmung organisiert hätte. Auch
die große Steuerreform oder die Anhebung des Kindergelds brachte
bei der umworbenen Wählerklientel nicht den erhofften Zuspruch, weil
sie entweder in der dominierenden Sparrhetorik unterging oder wie die
zweite Stufe der Steuerreform mit der Oder-Flut quasi über Nacht
hinfort gespült wurde.
Der "Neue Mitte" wurde eine Politik geboten, die genau so vage
war, wie das Konstrukt von der Neuen Mitte selbst.
Milieus und Lebensweise
Mehrfach hat es in der Vergangenheit auch in spw Beiträge gegeben,
die versuchten die soziale Basis der Neue-Mitte-Politik" zu ergründen.
Dabei haben wir uns im wesentlichen auf die Arbeiten zur Milieuforschung
bezogen. Thomas Westphal stellte in seinem Vortrag nun ein Konzept vor,
das sich mit dem Milieuforschungs-Ansatz nicht grundsätzlich widersprechen
muss, aber doch gegenüber deren Blick auf die "langen Linien
der Milieuentwicklung", möglicherweise kurzfristig wirksame
Veränderungen in der Lebensweise erklärt, die quer zu den von
Vester u. a. analysierten Milieus liegen, diese möglicherweise verändern
oder aber von diesen absorbiert werden.
Das Konzept der Lebensführung beschreibt eine Form der Konstruktion
des eigenen Ichs, der seelischen und der soziokulturellen Identität
der jeweiligen Person. Sie stellt sich als konkrete alltägliche Konstruktionsleistung
der Person dar, in der sie die Balance zwischen seelischer und kultureller
Identität zu bestimmen versucht: Die Innensicht - die Möglichkeit
aufgrund eigener, individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten des
Selbst-Bestand - soll mit den Anforderungen und Vorbildern von Außen
in Übereinstimmung gebracht werden. Die Identitätsbildung erfolgt
über die Auseinandersetzung mit Modellen der Lebensführung.
In der historischen Betrachtung lassen sich nach Jurczyk/Voß drei
Grundtypen der Lebensführung unterscheiden:
- Die strategische Lebensführung (Planung aller Ressourcen, Ziele
und Wege)
- Die traditionale Lebensführung (Orientierung an unhinterfragten
Werten die das Handeln vorgeben)
- Situative Lebensführung (situative Einstellung, auf sich zukommen
lassen, geschickt lavieren, Lebensführung als Lebenskunst etc.)
Diese erstgenannten grundlegenden Lebensführungsstile, die an die
Handlungstypologie Max Webers anknüpfen, lassen sich durchaus in
das Milieukonzept (vgl. die Grafik von Michael Vester, im Schwerpunkt
auf S. 16) einfügen, in dem wir jeweils diagonal vom Zentrum des
Schaubilds ausgehend die strategische Lebensführung eher im linken
oberen Drittel ansiedeln, während die traditionale Lebensführung
im unteren Drittel zu verorten wäre. Zu den "Ecken" der
Grafik hin würde die situative Lebensführung ausfransen, links
oben bezogen auf diejenigen, die aufgrund der materiellen und kulturellen
Ausstattung unabhängig genug sind, situativ zu entscheiden, rechts
unten als situative Lebensführung aufgrund des Mangels an kulturellem
und sozialem Kapitals - also diejenigen, die "von der Hand in den
Mund" leben.
Im "flexiblen Kapitalismus" wird Lebensführung schließlich
zum entscheidenden "Schlachtfeld" im Kampf um sozial-kulturelle
Hegemonie. Neue Wirtschaftssektoren gewinnen an Bedeutung. Der gesellschaftliche
Gesamtarbeiter wird weiblicher, akademischer und leistet seine Arbeit
in flexibleren Strukturen und Verantwortungen.
Die Vertreter des Konzepts der Lebensführung gehen nun davon aus,
dass sich aufgrund der Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen
eine erhebliche Verschiebung von den traditionalen und strategischen Lebensführungskonzepten
hin zur situativen Lebensführung als zwar nicht empirisch dominierende,
aber kulturell ausstrahlungsfähigste Konzeption kommt, denn sie suggeriert,
sich in einer Welt, die als sich ständig verändernd wahr genommen
wird, immer wieder anders entscheiden zu können.
"Die Mühen, seine eigene Lebensführung zu organisieren
und sein Leben in die Hand zu nehmen, beinhaltet jedoch auch die Abgrenzung
zu anderen Formen der Lebensführung (Selbstbestand durch Fremdabgrenzung).
Neben den Mechanismen der Selbststeuerung, der Arbeitsleistung an einem
selbst, werden die Mechanismen der sozialen und ideologischen Ausgrenzung,
die gesellschaftliche Platzanweisung für andere, (der Arbeitsleistung
durch Fremddefinition), immer stärker. Sie erfolgt immer stärker
über Rituale, Werte und Symbole nach denen im Alltag unterschiedliche
Modelle der Lebensführung sozial-kulturell sortiert werden."
(Westphal)
Flexibilität ersetzt Planungen und Zielsetzungen. Leben und Arbeit
wird flexibel gemischt. Persönliche Emotionalität wird in den
Beruf getragen und umgekehrt. Grenzen zwischen der Lebenswelt und der
beruflichen "Systemwelt" werden aufgeweicht. Vermittelt über
die verschiedensten Medien (Printmedien, Fernsehen, Internet) die gleichzeitig
immer "schneller" werden und den RezipientInnen immer kürzerer
Reaktionszeiten abverlangen, entwickelt sich so ein veränderter Modus
der (Selbst- wie Fremd-) Zuschreibung zu einer Gruppe. Weniger die in
der persönlichen Auseinandersetzung bzw. Kommunikation mit dem räumlichen
sozialen Umfeld zu "erfahrenden" Zuschreibungen an das Selbst,
sondern die durch Medien vermittelte "Zuschreibungsmöglichkeiten"
bieten den Fundus für die Herausbildung des eigenen Stils. Es entsteht
ein persönliches Gesamtarrangement, in dem die Welten personal verknüpft
werden (Ally McBeal-Effekt). Stabilität und Sicherheit wird für
die seelische Identität auch in dieser Lebensführung benötigt.
Sie speist sich jedoch in dieser Form nicht aus Werten und Planungen,
sondern aus den Kräften und Fähigkeiten der Person selbst. Gebraucht
wird das Selbstvertrauen und die Kompetenz situativ richtig reagieren
zu können.
Dies geschieht jedoch keineswegs "herrschaftsfrei", sondern
im vorgegebenen Rahmen des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Die
Wahlfreiheit reduziert sich auf die Elemente, die im flexiblen Kapitalismus
den Weiterbestand des Selbst sicher stellt.
Während die Lebensführung also einerseits gesellschaftlich de-kontextualisiert
wird, indem die Verbindungen zum eigenen sozialen Raum (zur Herkunft,
Tradition, etc.) gelockert werden und ausfransen, stellt die kapitalistische
Verwertungslogik durch die neoliberale Hegemonie sicher, dass die Lebensführung
den vorgegebenen Rahmen nur um den Preis der Ausgrenzung gesprengt werden
kann.
Die Rationalität individuellen Handelns orientiert sich damit überwiegend
an den Komponenten "Zeit" und "Verwertung", es wird
die Handlung bevorzugt, die in der kürzesten Frist den größtmöglichen
Gewinn verspricht. Längerfristige Überlegungen und Bindung verlieren
dem gegenüber an Bedeutung, ohne dass sie jedoch vollständig
aufgelöst werden.
Der situativen Lebensführung wohnt dabei ein spezifischer Antagonismus
inne: Nämlich zwischen individueller Autonomie einerseits und dem
Verlust persönlicher Stabilität andererseits. Leben und Lebensführung
wird provisorischer, Alltag und Weltanschauung kontextloser. Das persönliche,
soziale Vermögen zur Arbeit an sich selbst wird unter den Bedingungen
des flexibilisierten Kapitalismus zur entscheidenden sozialen Spaltungslinie.
Identität, Ideologie und hegemoniale Anrufung
Mit den Arbeiten von Antonio Gramsci und Louis Althusser wissen wir, dass
bei der Herausbildung einer kulturellen Identität des Subjektes ideologische
Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle spielen. Auf dem Feld der
Deutungen, der kulturellen Symbole und der ideologischen Diskurse wird
die Hegemonie in der Gesellschaft reproduziert und gefestigt. Sozial-kulturelle
und politische Hegemonie in der Gesellschaft wird nicht mit der Durchsetzung
einer einheitlichen, monolithischen Ideologie errungen, sie ist auch nicht
der einfache Ausdruck der herrschenden ökonomischen Klasse. Hegemonie
erreicht ein herrschender ideologischer Diskurs nur durch die Integration
ideologischer Elemente der Beherrschten.
Für Althusser sind Individuen nur Träger von Strukturen, sie
bedürfen der ideologischen Formatierung zur Subjekt-Werdung. Diese
Formatierung geschieht durch die "Anrufung": Durch Artikulation
(Verkoppelung, zum Ausdruck bringen) verschiedener (auch gegensätzlicher)
ideologischer Elemente, die an sich keine notwendige Zugehörigkeit
zu einer Ideologie besitzen (z.B. Anti-Imperialismus und Nationalismus)
wird ein ideologischer Diskurs herausgearbeitet. "Die isolierten
Elemente eines Diskurses haben für sich genommen keine Bedeutung.
Entscheidend ist, wie aus der verwirrenden Vielfalt unterschiedlicher
Anrufungen und angerufener Subjekte ein ideologisch hegemoniales Gesamtsystem,
ein Diskurs entsteht." (Westphal) und dieser am Alltagsbewusstsein
der Individuen anknüpft.
Ideologische Diskurse sind verkoppelt mit den sozialen und ökonomischen
Strukturen und Entwicklungen einer Gesellschaft und somit an die sozial-kulturellen
und historischen Entwicklungspfade einer Gesellschaft gebunden. Nach Ernsto
Laclau ist Klassenkampf daher nichts anderes als eine spezifische ideologische
Anrufungsstruktur, die darauf abzielt, die Beschäftigten im Produktionsprozess,
als Träger der ökonomischen Struktur (Klasse an sich), durch
den Diskurs des Klassenkampfes als Subjekt (als Klasse für sich)
zu konstituieren.
Damit ist Klassenkampf nur das, was Klassen als solche konstituiert und
daher ist nicht jeder Widerspruch ein Klassenwiderspruch. In dieser Lesart
wird der Klassenkampf in der marxistischen Theorie auf seine eigentliche
Bedeutung und Funktion zurückgestuft. Die deterministische Sichtweise,
die davon ausgeht, dass jeder ideologische Inhalt eine Klassenkonnotation
hat und jeder Widerspruch auf einen Klassenwiderspruch reduziert werden
kann, wird abgelöst von einer Sichtweise, in der Klassenwiderspruch
auf der ökonomischen Ebene existiert und dort nachhaltig wirkt, aber
in der gesellschaftlichen Realität durch eine Vielzahl anderer relevanter
Widersprüche durchdrungen wird.
Rot-grün und der "Ich-und-Jetzt"-Populismus
Neben den "Basistrends" aus der Milieuforschung werden nun im
Ansatz der "Lebensführung" darüber liegende, "modische"
Ausdrucksweisen, Symbole und Re-Kontextualisierungen (in sehr fragilen
Strukturen) sichtbar, die - so der Eindruck - alltagswirksamer zu werden
scheint, als die "längerfristigen Überzeugungen und Zuschreibungen",
die im Rahmen der Milieuforschung auch heute noch bei den gleichen Personen
ermitteln würde.
Um ein aktuelles Besipiel aus der Wetterberichterstattung zu nehmen: Bei
starkem Wind werden Temperaturen als kälter empfunden, als sie es
in Wirklichkeit sind (wind-chill-effect). Ähnliches erlebten wir
bei der Einführung des Euro - die "gefühlte Teuerung"
war deutlich höher als die emprisch festgestellt Teuerung.
Wie lässt sich darauf politisch reagieren? Die Wahl bleibt nur zwischen
"Dein Gefühl ist falsch, die Temperatur ist plus 2 Grad und
nicht minus fünf (wahlweise, die Teuerung ist deutlich unter 2 %
und nicht über 10 %, etc.)" oder aber zu akzeptieren, dass die
Temperatur als kühl (der Euro als Teuro) erfahren wird, obwohl (!)
das Gegenteil empirisch richtig ist.
Politisch mobilisierbar nur ist eine Strategie, die die Menschen zunächst
so annimmt, wie sie ist. Aufklärung sollte nicht belehrend daher
kommen (wie es in der Linken leider noch zu oft der Fall ist, ersatzweise
"entlarvend"), sondern im klassischen "aufklärerischen"
Sinne der eigenen Befreiung aus der Unwissenheit. Alternativen müssen
konkret sein, erfahrbar werden.
Meine These ist nun, dass die Politik von rot-grün in den ersten
vier Jahren zu unentschlossen und zu wenig ausgeprägt war, als dass
sie damit in der Lage gewesen wäre, entweder derart für eine
Polarisierung zu sorgen, die die eigenen Anhänger mobilisiert (und
natürlich damit auch weitere Erwartungshaltungen erzeugt) hätte,
oder aber tatsächlich eine soziale Brückenfunktion ausgeübt
hätte, die ihre Politik und die sie vertretenden Akteure als alternativlos
hätten erscheinen lassen.
Der Versuch, auf der Klaviatur der Mediengesellschaft zu spielen, hat
sich sogar als verhängnisvoll heraus gestellt. Die Allianz aus "Bild,
BamS und Glotze", mit der Schröder die Republik regieren wollte,
hat sich nicht vor dessen Karren spannen lassen, sondern vor allem die
Springer-Presse gehört zum kaum abschwellenden Chor derjenigen, die
vom Verrat des Kanzlers Schröder, vom "Wahlbetrug" schreiben.
Die Wiederbelebung der zivilgesellschaftliche Suche nach Alternativen
zum Herrschenden hat nicht stattgefunden. Parteiveranstaltungen werden
zur Akklamationsmaschine, in denen nicht mehr um politische Positionen
selbst auch im Detail gerungen wird, in denen Beteiligung von Mitgliedern
gewünscht und als demokratisch legitimiert betrachtet wird. Selbst
die Abweichungen im Detail bei Zustimmung im Grundsatz wird als Dissonanz
gewertet, die eiligst ein Kanzlerwort erfordere. "There is no alternative"
- die Negation aller Alternativen gegenüber den von den jeweiligen
Parteiführungen als richtig erkanntes wird zum Maßstab der
Geschlossenheit und Führungsfähigkeit der politischen Elite.
Die Modernität und Offenheit im Aufritt und Gestus des Kanzlers war
nur die attraktive Kehrseite eines mediengerechten, faktisch aber autoritären
Politikstils. Politik wird nicht - wie gehofft wurde - im zivilgesellschaftlichen
Raum diskursiv entwickelt, sondern in der Pressekonferenz ex Cathedra
verkündet.
Die Hintergründe und Motive für die Entscheidungen werden als
alternativlos dargestellt, die Handlung selbst erscheint aber - um die
Begrifflichkeiten des Lebensführungs-Konzeptes zu übernehmen
- nicht als "strategisch-planende Regierungspolitik", sondern
vielmehr "situativ". Ähnlich wie bei der situativen Lebensführung
zeichnet sich rot-grüne Politik durch "Alltagslogik (was ist
die Schlagzeile in der Presse? Worüber redet Christiansen?)"
aus, nach der bei Bedarf ad-hoc und intuitiv entschieden wird. Es herrscht
eine dynamische Situativität vor, eine Reaktion auf permanenten Gestaltwandel
der Alltagsanforderungen. Komplexe Fragestellungen wie die Reform des
sozialen Sicherungssystems werden zwar einerseits in eine der zahlreichen
Sonder-Experten-Kommissionen verwiesen (und damit als Diskurselement aus
dem Alltag verbannt), gleichzeitig werden aber andererseits immer wieder
Vorstöße im Detail lanciert, die die Ernsthaftigkeit der Kommission
unterminiert.
Gepaart mit dem Egoismus der Generation Westerwelle kann diese Form der
Politik als "Ich-und-Jetzt"-Populismus beschrieben werden.
Rot-grün verfügt damit über keine eigene "Anrufungsstruktur",
um Zustimmung aus der eigenen sozio-kzulturellen Basis zu organisieren.
Der Absturz für die SPD in den Umfragen bei gleichzeitig phänomenalen
Zustimmungswerten für die CDU/CSU (als habe es nie 16 Jahre Kohl,
Reformstau, Schwarzgeld-Affäre, etc. gegeben) deutet weniger auf
gewachsenes Vertrauen in die Kompetenz der Konservativen hin, als darauf,
dass sich die Wähler von rot-grün so wenig ernst genommen, sondern
"verarscht" vorkommen, wie es Elmar Brandt mit seinem Steuer-Song
ausdrückt. Die Menschen fühlen sich von der Politik - und erst
recht von rot-grün - nicht ausreichend respektiert.
Ist ein demokratischer Populismus möglich?
Die Rolle des Populismus wird in Deutschland überwiegend dem "Rechtspopulismus"
zugewiesen und als anti-aufklärerisch, als Spiel mit den Emotionen
und Gefühlen als Gegensatz zur Aufklärung definiert.. Laclau
weist jedoch darauf hin, dass der Populismus als Teil der Ideologiebildung
ein wesentlicher Bestandteil hegemonialer Auseinandersetzungen ist. Klassen
können ihre Hegemonie nicht gewinnen ohne das Volk ihrer Gesellschaft
in ihrem Diskurs zu artikulieren. Die Verkoppelung des eigenen Diskurses
mit dem Volk, als echte und einzige Wahrer der Interessen des einfachen
Volkes gegen die Herrschenden der Macht, geschieht über den Populismus,
als Ensemble unter-schiedlicher Appelle an das Volk (populare Anrufungen).
Der Populismus ist also nicht die rückständigste Form der Ideologie
sondern die höchste Stufe der Artikulation von Klasse und Volk.
Nachdem die Politik der "Neuen Mitte" sowohl an der Unentschlossenheit
einer Politik für die eigene soziale Basis wie an der Unschärfe
der "Neuen Mitte" als stabiles Milieu selbst gescheitert ist,
steht rot-grün am strategischen Scheideweg: modifiziert sie ihre
Politik lediglich gegenüber Stoiber, Koch und Merz "modern aufgepeppt",
oder erkennt insbesondere die Sozialdemokratie, dass es konkrete Erwartungen
ihrer originären sozialen Basis gibt, um deretwillen sie gewählt
wurde und auch bereit ist, diese Basis massenwirksam für sich (nämlich
die Basis) einzusetzen .
Diese, von Michael Vester skizzierten, Erwartungen zu erfüllen erfordert
ein größeres Maß an Konfliktbereitschaft gegenüber
den Interessen des Kapitals, als dies gegenwärtig erkennbar ist.
Die aktuellen Proteste des Mittelstandes und der Industriellen resultieren
ja weniger daraus, dass es ihnen tatsächlich an den Kragen ginge,
sondern dass sie hier eine durchaus erfolgreiche Anrufungsstruktur aufbauen
konnten, die die "Krämerseelen" mit dem "Geiz-ist-Geil"-Faktor
(vgl. das aktuelle Kurzum von Thomas Westphal auf S. 2) verbindet und
letztlich nur die eigenen Interessen bedient, ohne aber ein eigene politische
Alternative aufzubauen.
Der Rückgriff auf das Konzept der Lebensführung zeigt, dass
neben der unmittelbar sozial-ökonomischen Abkopplung einiger Bevölkerungsgruppen
die soziale Frage durch Stigmatisierung weniger dynamischer Lebensführungen
verschärft wird. Hinzu kommt die Überforderung traditioneller
Milieus durch laufend wechselnde Anforderungen, die etwa eine traditionale
Lebensführung permanent in Schwankungen bringen.
Die Herausforderung für rot-grün besteht nun gerade darin, ausgehend
von den in den Milieus verankerten Grundüberzeugungen (z. B. soziale
Gerechtigkeit, Demokratieorientierung) eine Politisierung und auch Konfrontation
der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst zu organisieren und damit
an den situativen Alltagbedürfnissen anzuknüpfen, die auf der
Suche nach Stabilisierung (was etwas anderes als Stillstand oder Rückschritt
ist) sind.
Diese Strategie muss Ross und Reiter nennen - wer profitiert warum von
welcher Maßnahme? Wer hat welche Interessen? Und warum werden die
einen Interessen bedient, andere aber vernachlässigt? Eine solche
Strategie erfordert, aus dem verordneten neoliberalen Konsenssystem der
Marktdominanz und der Strangulation der Staatsfinanzen insoweit auszubrechen,
als dass das Bedürfnis nach Sicherheit für die eigene Klientel
wiederhergestellt werden muss: also eine Befürwortung investiver
Haushaltsausgaben zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
zu Lasten der Maastricht-Kriterien, also z. B. eine Steuerreform mit Stärkung
niedriger gegenüber hohen Einkommen und nicht-reinverstierter Gewinne,
etc.
Gewiss, all die konkreten politischen Forderungen klingen nicht neu -
und sie werden bedeutungslos bleiben wenn es nicht gelingt, sie mit den
Alltagserfahrungen, mit der Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben
organisieren, verknüpfen können. Ohne Leidenschaft für
die konkrete Auseinandersetzung um die Lebensführung und die Akzeptanz,
wie Menschen ihr eigenes Leben sehen und führen wollen, wird es keinen
demokratischen Populismus geben können.
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