Rot-grüne
Lektionen
Einleitung
zum Heftschwerpunkt
Von
Horst Peter und Reinhold Rünker
Horst
Peter, spw-Mitherausgeber, Vorsitzender des Vereins zur Förderung
von Demokratie und Völkerverständigung, lebt in Kassel
Reinhold Rünker, Mitglied der spw-Redaktion, arbeitet als Organisationsberater
und lebt in Leichlingen.
Rot-Grün hat eine zweite Chance bekommen, mit der noch im Sommer
kaum jemand mehr gerechnet hatte. Dem Wahlkampf fehlte das zündende
Thema, die mitreißenden Akteure, die überzeugenden Argumente.
Der konservative Herausforderer mied auf Anraten seiner spin doctors jegliche
inhaltliche Festlegung und konnte deshalb vor der ursprünglichen
Kampa-Strategie einer Personalisierung a la "Stoppt Strauss"
wegtauchen. Der daraufhin veränderte Kurs, Themen und Erfolge der
Regierung zu platzieren scheiterte dann weitgehend an fehlender Substanz
(Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik), unzureichender Vermittlung,
persönlichem Fehlverhalten (Bonus-Meilen-Debatte, Hunzinger-Scharping-Affärchen)
oder wurde medial fast zu Tode geritten (Hartz-Kommission).
Die Medien haben den Wahlkampf dann in den letzten Wochen doch wieder
personalisiert und sie personalisieren im Nachhinein konsequenterweise
die Bewertung des Wahlergebnisses: Schröder hat die Stimmen für
die SPD gewonnen, Fischer hat Schröder gerettet; Stoiber hat im Norden
und Osten nicht genug mobilisiert; Möllemann hat die FDP schwer beschädigt,
Gysi die PDS aus dem Bundestag befördert. Damit wird die Basis gelegt
für ein neues Duell: Setzt sich Fischer oder Schröder bei den
Koalitionsverhandlungen durch. Der Blick auf die realen Wirkkräfte
für diese Wahl - dazu gehören durchaus die handelnden Hauptpersonen
- bleibt verstellt.
Wir wollen vielmehr wird die Frage in den Mittelpunkt rücken: Welche
Wählergruppen haben Rot-Grün den Sieg gebracht?
Es sind nicht die sozialdemokratischen Stammwähler im Bereich der
Arbeiterschaft. Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit haben viele
Menschen daran gehindert sich deutlich für eine Fortsetzung der Regierung
Schröder/Fischer auszusprechen.
Die Sieger waren zwei Wählergruppen: Einmal haben die ostdeutschen
Wählerinnen und Wähler - aus Erfahrung klug - den unfinanzierbaren
Versprechen der Opposition nicht getraut. Außerdem hat die Regierung
mit entschlossenem Handeln während und nach der Flutkatastrophe,
nicht zuletzt durch die Verschiebung der nächsten Stufe der Steuerreform,
gepunktet.
Zum anderen haben sich in den letzten Wochen vor der Wahl die rot-grünen
Reformwähler aktiviert. Aus der Elbeflut tauchte der Klimaschutz
als politische Herausforderung wieder auf und die rot-grüne Regierung
bekam angesichts der Unfähigkeit und des Zynismus der Oppositionsparteien
plötzlich reformerischen Sinn. Dadurch wurde für die rot-grünen
Reformwähler die Position der Bundesregierung auf dem Gipfel für
nachhaltige Entwicklung zu einer Glaubwürdigkeitsprobe, die die Regierung
bestand: Die Bundesregierung präsentierte überzeugen erneuerbare
Energie als Kernpunkt nachhaltiger Entwicklung. Der Kanzler stellte danach
seine Reden um: Die Versöhnung von Ökologie und Wirtschaft wurde
zur wichtigsten Zukunftsaufgabe und dafür gab es - neben dem Nein
zum Irakkrieg - den größten Beifall.
Zwar versuchten die Medien diesen Politikwechsel im Wahlkampf totzuschweigen,
aber die Position erreichte die vorher eher skeptischen rot-grünen
Erfolgswähler. Es war beispielsweise möglich, in Kassel innerhalb
einer Woche die Unterschriften zu einem Aufruf "Für eine soziale
und ökologische Zukunft Deutschlands mit der Regierung Gerhard Schröder
und Joschka Fischer" zu erreichen (die Unterschrift für 10 €).
Nach Erscheinen in der regionalen Zeitung meldeten sich spontan so viele
weitere Unterzeichner, dass wir eine zweite Anzeige schalten konnten.
Es gab in den letzten drei Wochen in dieser Wählergruppe also so
etwas wie eine Aufbruchstimmung, die letztlich die Rot-Grüne Regierung
zum Sieger gemacht hat.
Die rot-grünen Reformwähler wirken durchaus in unterschiedlichen
gesellschaftlichen Bereichen. Gemeinsam sind ihnen guter Bildungsstand
und ein Verständnis von gesellschaftlichen Reformen, das sich vom
neoliberalen Reformbegriff unterscheidet.
Beide den Wahlsieg bringende Wählergruppen machen das künftige
Regieren nicht leicht. War die Basis für die erste rot-grüne
Regierung das erdrutschartige Wahlergebnis aufgrund der Wechselstimmung,
so bildet die Basis für die zweite rot-grüne Regierung ein Wählerauftrag,
der die Entwicklung Ostdeutschlands und ein ökologisch-soziales Zukunftskonzept
einfordert, an dem sich das Regierungshandeln messen lassen muss. Der
rot-grüne Reformwähler erwartet Schritte zu einer ökologischen
und sozialen Demokratie.
Was sind also die Lektionen, die rot-grün aus dem Wahlergebnis ziehen
sollte?
1. Rot-grün braucht ein neue Verständigung über die verbindende
Idee der Regierungspolitik. Was ist das übergeordnete Ziel rot-grüner
Politik und was sind die geeigneten Instrumente? Mit dem Niedergang der
"New Economy" ist auch das Ende der Idee der Regierung Schröder/Fischer
in die Krise geraten. Das Leitmotiv der Neuen Mitte hat ausgedient. Der
Hype der ausgehenden 1990er Jahre, in dem alles mit "neu" tituliert
wurde, wird nun auch mit Abschaffung des Nemax vom Börsenmarkt symbolisch
zu Grabe getragen.
Krisenzeiten sind immer auch Zeiten der Besinnung. Gemeint ist damit aber
nicht die im Moment populäre "Rückkehr der Bellheims"
(also der Werte und Protagonisten der "Old Economy"). Das politische
Bellheim-Aufgebot "Stoiber, Schäuble, Seehofer & Co."
des deutschen Konservatismus hat schließlich keine Mehrheit gefunden.
Besinnen sollte sich rot-grün auf seine politische Analyse der programmatischen
Aufbruchsphase zu Beginn der 90er Jahre, die im Begriff der Nachhaltigkeit
bzw. des sozialökologischen Wachstums als übergeordnete Reformprinzipien
mündeten. Neben der Bedeutung, die diese Idee der Verbindung von
Ökologie und sozialer Gerechtigkeit zugewiesen hatte, beinhaltete
sie auch eine Wiedergewinnung der Bedeutung des Staates für die Politik.
Die letzten Wochen des Wahlkampfs haben gezeigt, dass mit dem Begriff
der Nachhaltigkeit ein verbindendes und mobilisierungsfähiges Element
rot-grüner Politik besteht. Weder die "Ich-und-Jetzt"-Ideologie,
wie sie z. T. auch im "Neue Mitte"-Getue der letzten Jahre gepflegt
wurde, noch der konservative roll back sind mobilisierungsfähig.
2. Dem Staat in der Politik seine ihm gebührende Rolle zuzuweisen
heißt aber auch, ihn mit den notwendigen Ressourcen auszustatten.
"Ein Staat, der zuwenig an den richtigen Stellen einnimmt und zuwenig
an den richtigen Stellen ausgibt, vernachlässigt die Zukunft einer
Gesellschaft" zitiert Ulrike Hensel in ihrem Beitrag einen Finanzwissenschaftler
des 19. Jahrhunderts. Wie wahr! Und wir wollen mit "Staat" jetzt
nicht nur die nationalstaatliche Regierung meinen, sondern alle demokratischen
Gestaltungsebenen einer Gemeinschaft - also z. B. auch die kommunale Ebene,
die europäische Ebene oder aber auch die Sozialversicherungskassen
als Institutionen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung. (s. hierzu
den Beitrag von Margit Schratzenstaller im Schwerpunkt).
Die Sparpolitik der vergangenen Jahre hat selbst dazu beigetragen, dass
die Möglichkeiten rot-grüner Reformpolitik eingeschränkt
wurden. Die Strangulierung öffentlicher Investitionen aufgrund der
Steuerreform insbesondere für die Kommunen konnte in keiner Weise
durch die Verbesserung der Einkommenssituation niedriger und mittlerer
Einkommen ausgeglichen werden. Bereits seit einem Jahrzehnt leidet die
bundesdeutsche Wirtschaft unter einer Schwäche des privaten Konsums,
während die Sparquote konstant hoch bleibt. Die BürgerInnen
adaptieren damit das Verhalten, das die Politik ihnen vorlebt und merken
nicht, wie sehr sie die Negativspirale damit selbst immer weiter befördern.
Eine Haushalts- und Finanzpolitik, die eine strukturelle Überschuldung
der öffentlichen Haushalte zu überwinden sucht, muss deshalb
Schwerpunkte setzen, die Investitionen und Konsum begünstigen und
nicht diskreditieren. Noch so hohe Exportüberschüsse bringen
keine zusätzlichen Gelder in die Kasse, zumal dann nicht, wenn die
im Lande erwirtschafteten Gewinne nicht steuerlich wirksam werden. Wie
eine auf diesen Grundsätzen orientierende Steuerreform aussehen könnte,
skizziert Hilmar Höhn.
3. Nachhaltigkeitsstrategie und eine vernünftige Finanz- und Steuerpolitik
sollten das Ziel der Vollbeschäftigung unterstützen. Wir denken,
dass auch angesichts von mehr als offiziell vier Millionen Arbeitslosen
an einem derartigen Ziel festgehalten werden sollte. Der Erwerbstätigkeit
kommt auch im 21. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung zu. Abschied genommen
werden sollte aber endgültig vom Bild der männlich ausgerichteten
lebenslangen Erwerbsbiographie als Familienernährer.
Die Ansprüche an eine individuelle Lebensgestaltung stellen an die
Erwerbsarbeit neue Anforderungen sowohl im Bereich der Entlohnung als
auch an die Flexibilität in der Erwerbstätigkeit selbst. Die
große Herausforderung besteht darin, die notwendige Flexibilität
einerseits zu sichern, andererseits aber auch Regulierungen vorzunehmen,
um das Ausnutzen dieser Flexibilität zu begrenzen.
Das, was heute mit dem Hartz-Bericht als Arbeitsmarktpolitik diskutiert
wird, erfüllt die Anforderungen an eine Vollbeschäftigungspolitik
jedoch kaum. Dort, wo die Hartz-Kommission sich um eine schnellere Vermittlung
von Arbeitslosen und um eine Verbesserung der Erfassung unbesetzter Stellen
müht, können die Vorschläge sicher die Zeit der Arbeitslosigkeit
für den einen oder die andere Arbeitslose verkürzen, die Crux
aber ist doch, dass insgesamt zu wenige Arbeitsplätze vorhanden sind.
Bei vier Millionen Arbeitslosen haben wir es eben nicht mit einem organisatorischen
Problem der Vermittlung zwischen Arbeitsplatzsuchenden und zu besetzenden
Arbeitsplätzen geht. Zur Kritik der Hartz-Vorschläge findet
sich in unserem Schwerpunkt der Beitrag von Achim Trube und Norbert Wohlfahrt.
Ohne eine aktive Beschäftigungspolitik sowie eine Wirtschafts- und
Finanzpolitik, die der Produktion und dem Konsum von Waren und Dienstleistungen
Vorrang für der Geldanlage einräumt, werden keine zusätzlichen
Arbeitsplätze geschaffen.
Dass rot-grün in den Koalitionsverhandlungen die Bildungspolitik
und das Thema Kinderbetreuung ganz oben auf die politische Agenda setzen,
kann da schon eher in die richtige Richtung weisen. Bildungspolitik verstanden
als die Ausbildung der Fähigkeiten zur künftigen (und dauerhaften)
Erwerbstätigkeit und zur Beteiligung an der Gesellschaft, erfordert
mehr finanzielle und personelle Ressourcen als bislang. Das bedeutet aber
auch, dass Länder und Kommunen in die Lage versetzt werden, mehr
Lehrpersonal für Schule und Hochschule einzustellen, die längst
überfällen Renovierungsinvestitionen an den Gebäuden und
der Einrichtung, der technischen und medialen Ausstattung vorzunehmen.
Mit einem derartigen Investitionsprogramm in Bildung lassen sich zwar
auch keine vier Millionen Arbeitsplätze hervorzaubern. Es wäre
aber ein sichtbares Signal, dass sich etwas in der Gesellschaft bewegt,
dass Politik seinen Gestaltungsanspruch annimmt und dass konsumwirksame
Ausgaben sinnvolle Investitionen in die Zukunft sein können.
4. Die WählerInnen haben den Parteien am 22. September auch mit auf
den Weg gegeben haben, dass von ihnen ein unterscheidbares Profil gegenüber
anderen Parteien erwartet wird. Wenn sich in den Wahlkampfmonaten selten
ein Thema länger als eine Woche in der öffentlichen Diskussion
gehalten hat, liegt dies nicht allein daran, dass die Medien immer auf
der Suche nach neuen Themen, Skandälchen und Personen wären.
Vielmehr haben es die Wahlkampfführungen in den Parteien und den
Planungsstellen der Regierung nicht geschafft, die eigenen AnhängerInnen
bei der Stange zu halten.
Wer in den eigenen Reihen Diskursivität und Offenheit unterbindet,
der muss sich nicht wundern, wenn er für die Themen, die ihm wichtig
sind, keinen Resonanzboden mehr hat. Nur wenige wollen sich mit der Rolle
des Claqueurs begnügen. Wer sich in einer Partei oder politischen
Gruppe engagiert, erwartet, dass seiner Meinung auch gehört wird
geschenkt und sich Mitmachangebote nicht auf das Verbreiten von Sprachregelungen
reduzieren.
Franz Walter schrieb vor einigen Tagen in der Frankfurter Rundschau einen
Beitrag mit dem Titel "Eine ordentliche Portion Aufsässigkeit
kann nicht schaden", in dem er an die Generation nach Schröder
appelliert "mehr Mut, Verwegenheit und Reformismus" zu wagen.
Da ist dem Politikwissenschaftler zuzustimmen. Und es ist ja nun nicht
so, als gäbe es nicht auch in der Partei widerständige Ideen
zum Mainstream. Die Partei braucht aber den Mut, sich mit diesen auseinander
zu setzen - und die KritikerInnen des Mainstreams einen langen Atem, ihre
Positionen immer wieder einzubringen.
Die Beiträge von Niels Annen und Oliver Kaczmarek in diesem Schwerpunkt
benennen zahlreiche Ansatzpunkte, was sich in der SPD ändern muss,
damit die zweite Chance für die SPD erfolgreicher genutzt wird als
die erste Amtszeit von Gerhard Schröder als Kanzler.
Hinzuzufügen ist, was aus der Regierungszeit von Helmut Schmidt zu
lernen wäre: zum einen darf die Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung
nicht die Verbindung zu den sozialen Bewegungen, die die Reformpolitik
mittragen sollen, verlieren. Die SPD muss für diese Bewegungen ein
Forum bleiben. Zum anderen darf es nicht wieder zu einer Situation kommen,
in der sich die politische Elite der Regierung von der Partei selbst entfernt.
Eine Regierung hat naturgemäß eine andere Rolle einzunehmen
als eine Partei. Die Partei verliert aber in dem Maße ihre Glaubwürdigkeit
und Existenzberechtigung, in dem die Regierung Partitur und Takt des politischen
Konzerts vorgibt. Diese Gefahr ist für eine kleinere Partei größer
als für eine große Partei. Aber die Erfahrungen der CDU als
Kanzlerwahlverein in den 50er sowie 80er/90er Jahren sowie der SPD zur
Endphase der Schmidt-Regierung, als sich Partei- und Regierungspolitik
immer mehr voneinander entfernen, sollten Warnung genug sein. Und manchmal
ist es dann besser, wenn die Partei all ihren Mut zusammen nimmt, um eine
Korrektur vorzunehmen, als aus falsch verstandener Parteidisziplin widerstrebend
solchen Positionen zu folgen, die durch vermeintliche Regierungszwänge
diktiert werden.
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